Versteckte Überstunden, strukturelle Arbeitsplatzunsicherheit, ein allzu kompetitives System, das zudem anfällig ist für Machtmissbrauch. Die mitunter prekären Bedingungen, zu denen der akademische Mittelbau an Schweizer Hochschulen arbeitet, sind seit langem bekannt – und wurden unter anderem von der SAGW im Bericht «Next Generation» 2018 klar benannt. Die andauernde Debatte mündete 2021 in eine Petition des akademischen Mittelbaus, die im Oktober bei der Bundesversammlung eingereicht wurde. Die Petition biete «die Gelegenheit, die allgemeinen Grundsätze der schweizerischen Wissenschaftspolitik zu überdenken», schreiben Matthieu Leimgruber (Universität Zürich) und Bernard Voutat (Universität Lausanne) in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung.
Umfrage bei 770 Personen im Mittelbau
Mit der Universität Genf reagiert nun eine der grossen Volluniversitäten auf die anhaltende Kritik und legt auf Basis einer 2021 durchgeführen Umfrage für ihre Institution eine Bestandesaufnahme vor. Die Umfrage wurde vom Rektorat nach einer Konsultation der Genfer Mittelbauvereinigung Accorder und in Zusammenarbeit mit einer externen Beratungsfirma in einem mehrstufigen Verfahren durchgeführt (siehe «Aspects méthodologiques» im Bericht, S. 10). Im Fokus steht die Situation der DoktorandInnen, Post-Docs und OberassistentInnen. In Genf sind das rund 3800 Personen, die zumeist in befristeten Anstellungsverhältnissen arbeiten. Rund 770 von ihnen haben an der Umfrage teilgenommen.
Mehr als die Hälfte hat Angst in die Prekarität zu rutschen
Der Bericht zeichnet ein gemischtes Bild (vgl. Fig. 1 und 2): Eine Mehrheit der Mittelbauangehörigen empfindet ihre Tätigkeit an der Universität als befriedigend (84 Prozent) und hat Vertrauen in die universitären Hierarchien (rund zwei Drittel). Daneben treten aber auch eine ganze Reihe von Problemen deutlich hervor: Mehr als ein Drittel empfindet seine individuelle Situation als prekär, mehr als die Hälfte hat Angst, in die Prekarität abzurutschen, und mehr als ein Fünftel gibt an, schon Opfer von Mobbing («harcèlement moral») geworden zu sein. 3,4 Prozent der Befragten gaben zudem an, Opfer von sexueller Belästigung, und 12,9 Prozent Zeugen solcher Vorkommnisse geworden zu sein. Die Ergebnisse würden klar zeigen, dass die Probleme keine Einzelfälle, sondern ein strukturelles Übel seien, sagt Mathilde Matras vom Genfer Mittelbauverband Accorder gegenüber der Zeitung Le Temps.
Aktionsplan ist in der Pipeline
Die Universität Genf hat auf dieser Grundlage einen Aktionsplan erstellt, der sich derzeit in Konsultation befindet. Er sieht unter anderem Massnahmen vor, mit denen die Karriereplanung stärker unterstützt, nicht akademische Laufbahnen innerhalb der Universitäten aufgewertet (Stichwort «Third Space») und der Übergang in den ausserakademischen Arbeitsmarkt (Stichwort «frühe Selektion») erleichtert werden sollen. Die Wirksamkeit der Massnahmen soll durch periodisch durchgeführte Umfragen überprüft werden.
Schweizer Wissenschaftsrat erarbeitet Empfehlungen für die Nachwuchsförderung
Im Rahmen seines Schwerpunkts «Angemessene Grösse und Organisation des schweizerischen Bildungs-, Forschungs- und Innovationssystems» erarbeitet der Schweizerische Wissenschaftsrat derzeit einen Bericht, der neben «einer Reihe von Empfehlungen» erstmals den Bestand der Postdoktorandinnen und -doktoranden quantitativ dokumentieren und soziodemografische und berufliche Merkmale erfassen möchte. Der Bericht soll noch im ersten Halbjahr 2022 erscheinen.
Literatur
Galliot, Brigitte und Liliane Zossou (2022): Enquête 2021 sur les conditions de travail et de carrière du corps des collaborateurs et collaboratrices de l’enseignement et de la recherche (CCER) à l’Université de Genève. https://doi.org/10.13097/archive-ouverte/unige:157834
Hildbrand, Thomas (2018): Next Generation: Für eine wirksame Nachwuchsförderung (Swiss Academies Reports 13,1). https://doi.org/10.5281/zenodo.1216424
Schmidlin, Sabina, Eva Bühlmann und Fitore Muharremi (2020): Next Generation und Third Space: neue Karriereprofile im Wissenschaftssystem. Studie im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Swiss Academies Reports 15,3). https://doi.org/10.5281/zenodo.3923494
Zürcher, Markus (2021): Vier Optionen zur Stärkung des akademischen Mittelbaus in: Edieren: Geisteswissenschaften im digitalen Wandel (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 27,3), S. 10–13. https://doi.org/10.5281/zenodo.5567331
Titelbild
Romano1246, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons