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Wir müssen die Froschperspektive auf das Metaverse überwinden

Chris Bühler, Cyberethiker

Alle reden vom «Metaverse», aber niemand weiss so recht, wie diese (mögliche) Zukunft des Internets eigentlich aussieht.

Der Diskurs über «das Metaverse» ist geprägt von verengten, polarisierenden Narrativen. Dabei ist naive Euphorie ebenso fehl am Platz wie kategorische Ablehnung oder schulterzuckender Fatalismus gegenüber «der Digitalisierung, die ja sowieso macht, was sie will». Was uns dagegen weiterbringt, ist, die Diskussion über unsere virtuelle Zukunft breiter abzustützen.

Am 28. Oktober 2021 hat ein neues Zeitalter angefangen – das des «Metaverse». Zumindest könnte man dies meinen, nachdem der Facebook-Konzern damals gross ankündigte, fortan auf den Bau des «nächsten Internets» zu fokussieren und auch gleich den Firmennamen in «Meta Platforms Inc.» zu ändern. Seither wird allenthalben fabuliert und spekuliert, was dieses «Metaverse» denn nun eigentlich sei und was es für Konsequenzen für uns habe.

Aktuell ist «das Metaverse» vor allem eine chimärenhafte Chiffre.

Alle, die sich etwas zurückgeblieben vorkommen, weil sie diese Frage nicht beantworten können, kann ich an dieser Stelle beruhigen: Das liegt nicht an mangelnden Kenntnissen. Aktuell ist «das Metaverse» nämlich vor allem eine chimärenhafte Chiffre: Die einen reden von der Ära des «körperlichen Internets», die damit auf uns zukomme und träumen von einer persistenten, virtuellen Welt, die nahtlos in die physische übergeht. Andere befürchten, dass die angestrebte «total immersive experience» vor allem die restlose Durchkommerzialisierung unseres Lebens – auch offline – bedeuten wird. Und trotz weitgehender Übereinstimmung, dass es «das Metaverse» noch gar nicht gebe, ja wegen technischer und ideologischer Unwägbarkeiten vielleicht nie geben werde, behaupten viele, sie würden schon einen guten Teil ihrer Lebenszeit dort verbringen.

Metaverse: von der Romanwelt zum Hypebegriff

Kein Wunder fühlen wir uns angesichts dieser fragmentarischen, teils widersprüchlichen Visionen oft in eine verunsichernde Froschperspektive gedrängt. Es lohnt sich daher, die narrativen Netze rund um den Begriff des «Metaverse» zu entwirren. Dass das Wort dem 1992 erschienen Roman «Snow Crash» von Neal Stephenson entstammt, gehört unterdessen schon fast zum Cocktailparty-Allgemeinwissen. Wieso der Begriff erst nach fast 30 Jahren Schlagzeilen macht, scheint indes kaum jemanden zu interessieren. Ebenso wenig, was in dem Buch eigentlich genau erzählt wird. Lohnt sich eine vertiefte Lektüre? Auf den ersten Blick wirkt der Inhalt wie ein auf klassische Nerd-Bedürfnisse optimiertes Sammelsurium an erzählerischen Versatzstücken aus verschiedenen Subkulturen: High-Tech-Gadgets, japanische Samurai-Schwerter, Insider-Slang und seitenlang beschriebene Action-Szenen bilden ein Konglomerat, in dem die eigentliche Handlung manchmal zum dünn ausgestalteten Beiwerk verkommt. Die Kulisse für selbige stellt übrigens genre-typisch eine dystopische, ökologisch erschöpfte und total durchökonomisierte, von mafiösen Organisationen beherrschte Erde dar. Untypisch ist eher der Rückgriff auf altsumerische Mythen, auf deren Basis Stephenson Zauberei und Technologie, respektive Sprach-Code und Computer-Code in einer Droge vermischt, die dem Bösewicht zu unumschränkter Macht verhelfen soll. Wiederum ein etwas wirres, wenig originelles Plot-Vehikel.

Erst auf der Meta-Ebene (sic) wird das Werk wirklich spannend: Unter den Nerds, die das Werk in jüngeren Jahren verschlungen haben und sich für ihre Geschäftsvorhaben inspirieren liessen, figurieren heute prominente Namen der Internet-Industrie wie Amazon-Gründer Jeff Bezos, Silicon-Valley-Financier Peter Thiel und allen voran natürlich Mark Zuckerberg, der die Lektüre von «Snow Crash» zeitweise allen Facebook-Produktmanagern vorgeschrieben haben soll. Ebenfalls Pflichtlektüre für Facebook/Meta-Mitarbeiter sei: «The Metaverse: What It Is, Where to Find it, and Who Will Build It» von Risiko-Investor Matthew Ball. Der lieferte damit 2020 die Schablone für die breite wirtschaftliche Erschliessung virtueller Ressourcen und verhalf nebenbei gemeinsam mit der eingangs erwähnten Facebook-Show vom Oktober 2021 dem Begriff «Metaverse» überhaupt zum Durchbruch (bis dahin war beispielsweise der «Cyberspace» – ebenfalls eine Romanwelt – bedeutend stärker in den Köpfen verankert, wie ein Blick in «Google Trends» zeigt).

Entzauberung der Diskurse tut not

Legitimiert wird diese technologisch-wirtschaftlich geprägte Perspektive mit einer Mischung aus Fachsprache und Buzzwords, die oft einschüchternd auf Computer-Laien wirken. So entsteht ein digitaler Graben zwischen den Eingeweihten und der Mehrheit der Menschheit, die sich nach einem Anruf beim IT-Support häufig dümmer und hilfloser fühlt als vorher. Folgt man dem Bonmot von Arthur C. Clarke (Science-Fiction Schriftsteller und Physiker), wonach «jede hinreichend fortschrittliche Technologie von Magie nicht zu unterscheiden» sei, droht so ein zunehmend exklusiver Elitenzirkel von Techmagiern zu entstehen, die mit ihren Zaubersprüchen virtuelle Welten ebenso wie die physische prägen.

Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden

Das ist deshalb gefährlich, weil viele Innovationen der letzten Jahre von mehr angetrieben werden als von purer, «neutraler» Technologie. Dass nebst technikverliebten Nerds auch kühl kalkulierende Wirtschaftsvisionäre mitlenken, haben wir bereits gesehen. Weniger bekannt ist hingegen hierzulande, dass ausser Stephenson häufig noch eine andere Autorin neben den Laptops lag: Ayn Rand. In ihrem Roman «Atlas Shrugged» (erschienen 1958, auf Deutsch neu aufgelegt 2021 unter dem Titel «Der freie Mensch») zelebriert sie risikobereite Unternehmer und propagiert ein radikal libertäres Gedankengut: Rationalität und Egoismus nennt sie als zentrale Tugenden ihrer Ethik, strikten Laissez-faire-Kapitalismus als einzig moralisch akzeptables Staatssystem. Während die wissenschaftliche Philosophie und die Literaturwissenschaft sie kaum ernst nehmen, gehört sie zu den meistverkauften Schriftstellerinnen in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub (2021) beschreibt sie daher als «wirkmächtige Lebensabschnittbegleiterin in überraschend vielen Biografien», die sie meist in ihren Teenager-Jahren läsen: «Mit 16 findet man sie toll, mit 17 ist man schon etwas peinlich berührt.» Indes gebe es gerade im Silicon Valley Vordenker, darunter etwa der 2011 verstorbene Apple-Chef Steve Jobs oder der illustre Elon Musk (Tesla, SpaceX), die ein Leben lang an Rands Denkweise und ihren Narrativen festhielten.

Welches Web wollen wir?

Dabei scheint weniger der – zweifelhafte – philosophische Gehalt oder der politische Radikalismus Rands die Nerds angezogen zu haben. Es dürften wiederum leicht zugängliche Figuren, Metaphern und Botschaften sein, mit denen man sich einfach identifizieren kann. Ihr politisches Programm konnte Rand ihren Lesern dadurch nebenbei unterjubeln. Viele der tendenziell eher tech- als sozialaffinen Leser dürften die politische Botschaft gar nicht bewusst wahrgenommen haben. Daher feiern viele das «web3» – ein ähnlich obskurer Begriff wie «Metaverse», mit vielen konzeptionellen Überschneidungen, aber auch essenziellen Unterschieden – und die dezentrale Blockchain-Technologie als Befreiung des aktuell von Monopolen geprägten Internets. Sie realisieren dabei nicht, dass die Ideologie, die diese Entwicklungen antreibt, allem misstraut und de facto jegliche (staatliche) Kontrolle ablehnt. Anders gesagt: Eine Schwächung demokratischer Strukturen und Prozesse wäre nicht nur ein Kollateralschaden, sondern entspräche explizit der libertären Ideologie, die sich viele Visionäre des Internets zu eigen gemacht haben. Vielen Umsetzern aber dürfte dies nicht bewusst sein. Sie folgen naiven Narrativen statt sich zu fragen, ob wir wirklich ein anti-demokratisches Internet wollen. Einmal mehr dominiert eine beschränkte Froschperspektive.

Cyberethik statt Froschperspektive

Im Grundsatz ist es erfreulich, dass Kunst und Kultur in Form von Geschichten einen grösseren Einfluss auf technologische Entwicklungen und die Gestaltung der (digitalen) Zukunft ausüben, als man meinen könnte. Dennoch bleibt mehr als nur ein Wermutstropfen, wenn man feststellt, dass die entsprechende Literatur als Inspiration oberflächlich und naiv rezipiert wird. Schliesslich ist es eine Funktion von Literatur, kritisches Nach- und Weiterdenken anzuregen. Bevor wir aber fatalistisch zu lamentieren beginnen, dass ein «Metaverse» unter solch dilettantischen Voraussetzungen ja nur ein dystopischer Alptraum werdenkönne, lohnt es sich, eine Aussage von Felix Stalder, Kunstschaffender und Professor für Digitale Kultur, zu bedenken (2022): «Dystopie ist nicht für alle Leute gleich. Aus dem Blickwinkel jener Menschen, die diese Welten konstruieren ist das [Metaverse] natürlich wahnsinnig attraktiv.» Wenn wir als Geistes- und Kulturwissenschaftler also das Gefühl haben, diese Attraktivität komme von kurzsichtigen und einseitigen Perspektiven, wäre es hilfreich, wenn wir mutig weitere dazustellen. Nicht um zu zeigen, wie «es richtig wäre», sondern damit zum technologischen Sachwissen mehr gesellschaftliche Einbettung kommt. Von einem konstruktiven Dialog über (scheinbar) weit entfernte Fachbereiche hinweg könnten nämlich alle Seiten profitieren und ein «Metaverse» bliebe nicht länger eine obskure Chiffre, sondern würde zum gemeinsamen Projekt.

Wie können wir gut leben in einer dicht vernetzten Welt?

Statt sofort über Details zu streiten, wie eine virtuelle Welt gebaut wird, rückte dann hoffentlich die Frage an den Anfang, was wir überhaupt bauen wollen. Und statt zu versuchen, alle menschlichen Eigenheiten mit immer mehr Programmcode zu bändigen, würden wir uns so vielleicht wieder einmal auf die auch nach 2500 Jahren immer noch aktuelle Grundfrage der Ethik nach dem guten Leben (und nicht nach gängelnden Gesetzen und Verboten, wie oft fälschlicherweise angenommen wird) besinnen. Mit einem kleinen Update wird sie sogar zur Leitfrage der Cyberethik: «Wie können wir gut leben in einer dicht vernetzten Welt?» So könnte aus vielen unterschiedlichen Froschperspektiven unversehens eine Meta-Perspektive werden.

Weiterführende Quellen

Zum Autor

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Chris Bühler (www.chrisbuehler.ch) ist lizenzierter Cyberethiker mit einem Hackerherz. Beruflich ebenso wie privat denkt, diskutiert und berät er mit Vorliebe rund um den Themenkomplex «Gesellschaft im digitalen Wandel» und fördert Future Skills wie kritisches Denken und Kommunikationskompetenzen.

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Titelbild

Snow Crash auf dem Bildschirm. Quellen: Gaspar-Uhas, Guillermo-Ferla / Unsplash. Collage : Chris Bühler