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Die Schweiz – neutral, aber nicht wertfrei

Amando Ammann, Universität Basel
Politik Recht und Politik

Die Neutralitätspolitik der Schweiz ist im Wandel begriffen. Unter den neuen Gegebenheiten könnten nicht zuletzt die Guten Dienste leiden. Das muss nichts Schlimmes sein.

Übernahme von EU-Sanktionen ist legitim

Mit der vollständigen Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland hat der Schweizer Bundesrat 2022 etwas gewagt, wozu er 2014 nach der Annexion der Krim noch nicht bereit war. Damals erliess er nur die nötigsten Massnahmen, um die Umgehung der EU-Sanktionen durch die Schweiz zu verhindern. Aufgrund des innen- und aussenpolitischen Drucks hat sich der Bundesrat nun von seiner bisherigen Strategie abgewendet, die sich stark an den Guten Diensten orientiert hatte. Unter diesen diffusen Begriff fallen Schutzmachtmandate, die Ausrichtung von Konferenzen und aktive Vermittlertätigkeiten. Vor Kurzem hatte Staatssekretärin Livia Leu zu Bedenken gegeben, dass man das derzeitige Schutzmachtmandat im Konflikt zwischen Russland und Georgien nicht erfüllen könne, wenn man sich zu nahe an eine Parteiposition begebe. Unterdessen dürfte sich die Frage stellen, ob Russland unter Präsident Putin an derartigen Mediationen überhaupt noch Interesse bekundet. Die Quittung kam sofort. Die Schweiz ist für Russland offiziell ein «unfreundlicher» Staat.

Völkerrechtlich gesehen ist der Kurswechsel des Bundesrats legitim. Die wenigen verbindlichen Rechte und Pflichten ­– wie die Nichtteilnahme an internationalen bewaffneten Konflikten oder das Verbot von Waffenlieferungen – erwachsen schliesslich einzig aus dem Neutralitätsrecht, das in den Haager Abkommen von 1907 und im darauf basierenden Gewohnheitsrecht festgehalten ist. Dieses ist nur auf zwischenstaatliche Konflikte anwendbar. Dagegen verstösst die Schweiz mit den erweiterten Sanktionen nicht. Auch das Schweizer Embargogesetz lässt den Nachvollzug von EU-Sanktionen zu. Weniger klar ist hingegen die Vereinbarkeit mit der Neutralitätspolitik, also die Massnahmen, die von der Schweiz über die Anforderungen des Neutralitätsrechts hinaus getroffen werden. Diese soll die Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit des neutralen Status stärken. Sie liegt aber im Ermessen der Regierung, der Handlungsspielraum ist dementsprechend gross und wird nun vom Bundesrat auch genutzt.

Von der Integrations- und Schutzfunktion zur Dienstleistung

Die Neutralität der Schweiz erfüllte im Verlauf der letzten Jahrhunderte unterschiedliche Funktionen, deren Gewichtung mit der Interessenslage der Schweiz und dem machtpolitischen Umfeld variierte. Im konfessionell und sprachlich-kulturell fragmentierten Bundesstaat Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Konsens über eine aussenpolitische Enthaltung beispielsweise eine wichtige Integrationsfunktion. Später diente die Neutralität vor allem dem Schutz der Unabhängigkeit der Schweiz, einem militärisch unbedeutenden Kleinstaat inmitten regionaler Grossmächte. Diese wiederum respektierten die Schweizer Neutralität einerseits, weil sie die Vorstellung eines europäischen Gleichgewichts bediente, andererseits, weil sie von den humanitären Leistungen der Schweiz profitierten. Spätestens mit dem Ende des Kalten Kriegs nahm die Bedeutung der Schutzfunktion stetig ab. Sicherheit garantierte in erster Linie die geographische Lage inmitten Europas, umgeben von demokratischen NATO-Mitgliedern. Mit der Debatte über einen EU-Beitritt Anfang der 1990er-Jahre wurde auch die Neutralitätspolitik neu gedacht und die Forderung nach der Reduktion auf ihren völkerrechtlichen Kern verbreitete sich.

Im Verlauf der letzten dreissig Jahre rückte die Dienstleistungsfunktion der Neutralität in den Vordergrund.

Der Nachvollzug von und die Beteiligung an Sanktionen der UNO wurde für neutralitätsvereinbar befunden, genauso die Integration in die EU. Selbst die Kooperation mit der NATO nach 1996 war neutralitätsrechtlich unumstritten, wenngleich neutralitätspolitisch erklärungsbedürftig. Im Verlauf der letzten dreissig Jahre rückte die Dienstleistungsfunktion der Neutralität  in den Vordergrund, namentlich in Gestalt der aktiven Guten Dienste (Vermittlungstätigkeiten), die kulant auch als «Solidaritätsdimension der Neutralität» bezeichnet werden.

Ein zukunftsfähiges Verständnis der Guten Dienste

Die Schweizer Neutralität wird oftmals als Basis der Guten Dienste des Landes verstanden. Die Schweiz war daher oft bemüht, die Übernahme von Sanktionen oder Beteiligungen an Interventionen zu vermeiden, darauf verweisend, dass dies sonst die Effektivität ihrer Vermittlungsarbeit aufs Spiel setzen würde. Dennoch betonte der Bundesrat auch nach der Übernahme des EU-Sanktionsregimes gegen Russland, dass die Schweiz weiterhin mithilfe ihrer Guten Dienste zur Konfliktlösung beitragen wolle. Neutralität ist eben keine zwingende Voraussetzung für diese Dienste. Insbesondere im Bereich der Vermittlung weist die Schweiz im Vergleich mit anderen Staaten trotz ihrer Neutralität keine besonders positive Bilanz auf. Anders verhält es sich bei den Schutzmachtmandaten, die jedoch seit den 1970er-Jahren immer weniger gefragt sind. Die Warnung, dass eine Neutralitätsfixierung kontraproduktiv sei und sich die Guten Dienste vielmehr am Schweizer Interesse an der Förderung von Frieden und Sicherheit orientierten sollten, ist nicht neu. So verstand beispielsweise der Historiker Konrad Walter Stamm unter dem Begriff der «Guten Dienste» die Bemühungen eines Staates, zur Schlichtung eines zwischenstaatlichen Konflikts beitragen.1 Der Bundesrat selbst betont wiederum stets die Bedeutung des Dialogs. Im Fall der Ukraine-Krise, in dem laut Aussenminister Cassis zuerst die Spirale der Gewalt gebrochen werden muss, bevor überhaupt ein Dialog möglich ist, kann auch die Übernahme von umfassenden Wirtschaftssanktionen zur Streitschlichtung beitragen.

Zurück zur Integrationsfunktion von Neutralität?

Da die USA ihre Rolle als globale ideologische Führungsmacht reduziert, werden ihre Verbündeten und insbesondere die EU gezwungen, sich eigenständig für die Verteidigung ihrer Werte von einzusetzen. Je öfter Europa als Akteurin in Konflikte involviert sein wird, umso stärker isoliert sich die ­– nicht nur ideologisch, sondern auch wirtschaftlich in die EU quasi-integrierte – Schweiz mit ihrer Zurückhaltung. Das kann sie sich nicht leisten.

Als übergeordnetes Ziel der Neutralität gilt die Wahrung des inneren und äusseren Friedens im Rahmen von relativer Unabhängigkeit und Gemeinwohl.

Angesichts des zunehmenden Drucks, den die westliche Wertegemeinschaft auf die Schweiz ausübt, könnte diese Neuausrichtung der Neutralitätspolitik auch als Rückbesinnung auf die Integrationsfunktion von Neutralität verstanden werden – dieses Mal aber nach aussen gerichtet. Denn als übergeordnetes Ziel der Neutralität gilt die Wahrung des inneren und äusseren Friedens im Rahmen von relativer Unabhängigkeit und Gemeinwohl. Auch angesichts des belasteten Verhältnisses zur EU und deren Unverständnis gegenüber der Schweizer Haltung hätte ein Festhalten an der bisherigen Neutralitätspolitik en gros wohl mehr geschadet als genützt. Die Schweizer Bevölkerung, in deren Köpfen das Axiom integraler Neutralität lange völlig unantastbar schien, zeigt ebenfalls Akzeptanz für flexiblere Spielarten: Jüngst eine differenzielle Auslegung von Neutralität, die Beteiligung an nichtmilitärischen Sanktionen erlaubt. So erstaunt es nicht, dass die neusten Sanktionen auch innenpolitisch eine Mehrheit fanden.

Neutralität und Gute Dienste entkoppeln

Im 21. Jahrhundert der Multipolarität droht der liberale eurozentrische Wertekanon einer von vielen zu werden. Die Schweiz sollte sich daher fragen, ob sie weiterhin an ihrem bisherigen Neutralitätsverständnis festhalten will, nur um ihre Guten Dienste nicht zu gefährden. In Konflikten, an denen Staaten wie Russland beteiligt sind, deren Verständnis von Völkerrecht immer stärker von vermeintlich universellen Prinzipien des Westens abweicht2 und die selbst grundlegende völkerrechtliche Regeln wie die territoriale Unversehrtheit (Art. 2(4) UNO-Charta) missachten, gibt es wenig zu vermitteln, kaum zu mediieren, und keine Grundlage für einen Dialog. Die Ausrichtung der Schweizer Aussenpolitik auf hypothetische zukünftige Vermittlertätigkeiten wird daher unglaubwürdig und immer schwerer zu legitimieren. In seinem Neutralitätsbericht hielt der Bundesrat 1993 fest, dass die Schweiz durch die Guten Dienste ihr Engagement für Frieden zwischen den Mitgliedern der «Staatengemeinschaft» ausdrücke. Dieser Gemeinschaft gehört Russland zurzeit nicht mehr an.

Die Neutralitätspolitik ist ausserhalb ihres neutralitätsrechtlichen Kerns anpassungsfähig. Gute Dienste, verstanden als Engagement für den Frieden, gibt es auch ohne Neutralität (und umgekehrt). Es ist an der Zeit, zu adjustieren und diese vermeintlich gegenseitige Bedingung zu überdenken.

Im Text nicht verlinkte Quellen

1Stamm, Konrad W.  (1974): Die guten Dienste der Schweiz: Aktive Neutralitätspolitik zwischen Tradition, Diskussion und Integration. Bern: Herbert Lang, S. 5.

2Mälksoo, Lauri (2015): Russian Approaches to International Law. Oxford University Press, ISBN: 9780198723042.

Zum Autor

Amando Ammann studiert European Global Studies an der Universität Basel und schreibt für Année Politique Suisse über die Schweizer Aussenpolitik.

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