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Das Bild der Exzellenz hängt schief in der Akademie

Heinz Nauer, wissenschaftlicher Redaktor SAGW

Über die Arbeitsbedingungen im akademischen Mittelbau wird lebhaft diskutiert. Ein neuer Bericht des Wissenschaftsrats analysiert die Situation der Postdocs.

Diskussionen über akademische Karrierewege und den sogenannten «Mittelbau» im Hochschulsystem sind ein wissenschaftspolitischer Dauerbrenner. Schon 1962 forderte der damals 35-jährige Astronom Uli Steinlin in seiner Streitschrift «Hochschule wohin?» in Anlehnung an das amerikanische Modell eine flachere Hierarchie an den Universitäten, einen Abbau von Lehrstühlen und dafür mehr Assistenzprofessuren. 60 Jahre später sind die Universitäten zwar nicht mehr dieselben (die Zahl der Studierenden hat sich seither fast verzehnfacht), das Grundproblem einer steilen Pyramide mit höchst unsicheren Karriereperspektiven ist aber noch immer da.

Wird die Postdoc-Blase überschätzt?

In den letzten zwei Jahren hat die Mittelbau-Debatte wieder Fahrt aufgenommen. Nun legt auch der Schweizerische Wissenschaftsrat, ein Beratungsorgan des Bundes, einen Bericht dazu vor. Anhand quantitativer und qualitativer Daten untersucht er darin die Situation der Postdocs an den Schweizer Hochschulen und formuliert Empfehlungen.

Erfreulich ist: Der quantitative Teil des Berichts, der zusammen mit dem Bundesamt für Statistik (BfS) erarbeitet wurde, legt erstmals belastbare Zahlen über Zahl und Karriereverläufe der Postdocs vor. Das BfS schätzt, dass gegenwärtig rund 7000 Postdoktorierende an einer Schweizer Hochschule angestellt sind, 62 Prozent davon in den Mint-Disziplinen, 18 Prozent in den Bereichen Medizin und Pharmazie und ebenfalls 18 Prozent in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Seit 2014 ist die Zahl der Postdocs nur leicht angestiegen. Daraus könnte man ableiten, dass das Bild einer «Postdoc-Blase», wie es unter anderem der SAGW-Bericht «Next Generation» von 2018 zeichnete, hinterfragt werden muss. Allerdings muss die Aussagekraft des kurzen Untersuchungszeitraums 2014–2020 ebenfalls hinterfragt werden. Wenn man zum Beispiel den Zeitraum seit der Jahrtausendwende in den Blick nimmt, zeigt sich ein ganz anderes Bild der Mengenausweitung punkto Zahl der Studierenden, der Doktoranden, der Postdocs, der Projekte, der Publikationen.

Heute sind schätzungsweise rund 7000 Postdoktorierende an einer Schweizer Hochschule angestellt

Aufhorchen lässt aber vor allem eine andere Zahl: Von den Forscherinnen und Forschern, die 2015 ihr erstes Postdoktorat antraten, haben nach vier Jahren lediglich rund 16 Prozent eine feste Anstellung in der Schweiz gefunden, die ihren Qualifikationen entspricht und mit Wissenschaft und Forschung zu tun hat. Gerade einmal ein Prozent der Kohorte erreichte in diesem Zeitraum eine Professur.

Zurück auf Feld eins der Mittelbau-Debatte

Die SAGW, die Mittelbauvereinigung Actionuni oder die Petition Academia haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Berichten, Studien und Empfehlungen publiziert. Im Grundsatz sind sie sich einig: Das derzeitige Postdoc-System ist dysfunktional und muss grundlegend restrukturiert werden. Eine der wichtigsten Änderungen, die sie vorschlagen, ist die Einführung von mehr unbefristeten Stellen, im Mittelbau oder im sogenannten Third Space, beispielsweise als Lecturer, Data Stewards oder Forschungsmanager. Sie stehen damit weitgehend in Einklang mit den Schlussfolgerungen des 2021 veröffentlichten OECD-Berichts «Reducing the precarity of academic research careers».

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats gehen in die entgegengesetzte Richtung. Sie stehen in einem losen Verhältnis zu den empirisch-analytischen Teilen des Berichts und beruhen teilweise auf «den kollektiven Erfahrungen» der Ratsmitglieder, wie SWR-Präsidentin Sabine Süsstrunk auf einem zur Publikation organisierten Podium sagte.

Für ein auf Exzellenz ausgerichtetes System sei eine grosse «Postdoc-Population» eine flexible, kostengünstige und letztlich «unverzichtbare Ressource». Dass nur eine kleine Minderheit davon langfristig Chancen auf eine akademische Karriere hat, sei «an sich nicht problematisch, da ein Postdoc als die letzte Phase der wissenschaftlichen (und nicht nur akademischen) Ausbildung betrachtet werden sollte.» Der Wissenschaftsrat empfiehlt den universitären Hochschulen zwar, mehr Tenure-Track-Positionen zu schaffen, von unbefristeten Stellen unterhalb der Professur hingegen rät er aus ökonomischen Überlegungen ab.

Postdocs, so ein Lösungsansatz des Berichts, sollten nach ihren Lehr- und Wanderjahren vielmehr dazu ermutigt werden, sich nach Stellen ausserhalb der akademischen Wissenschaft umzusehen oder unternehmerisch tätig werden und Start-ups gründen.

Wer die Mittelbau-Debatte in den letzten Jahren verfolgt hat, reibt sich verwundert die Augen über dieses, nun ja, traditionelle Verständnis der Rahmenbedingungen für akademische Selektion, Kompetivität und Exzellenz, bei der jede unbefristete Stelle unterhalb der Professur die Universität in einen mediokren Ponyhof zu verwandeln droht.

Dann heisst es «Pech gehabt» – für Forschende, Unis und Steuerzahler

Weshalb sollten die besten Köpfe überhaupt mitmachen in einem System, das theoretisch für Exzellenz sorgt, in der Praxis aber erwiesenermassen anfällig für Fehler und Missbrauch ist? Ein aus dem Leben gegriffenes Beispiel für einen Karriereweg im heutigen System: Eine frisch habilitierte Politologin, Schweizerin, Promotion in England mit Auszeichnung, Forschungsaufenthalte in den USA und anderswo auf dem Erdball, wirbt mit 36 Jahren einen der angesehenen und in einem höchst kompetitiven Verfahren vergebenen Eccellenza-Fellowships des Nationalfonds ein. Sie wird schulterbeklopft und darf nun als Assistenzprofessorin an einer Schweizer Uni selbstständig forschen und lehren. Aber nur fünf Jahre lang, dann ist Schluss. Zu einer Tenure-Track-Position mit Entfristung bei guter Leistung kann oder will sich ihre Uni nicht entscheiden. Und die unbefristeten Professuren in ganz Europa in ihrem Spezialgebiet kann die Assistenzprofessorin an einer Hand abzählen. Wenn in dieser Zeit zufällig keine frei wird, gilt: Pech gehabt.

Man kann es drehen, wie man will, dieses traditionelle Verständnis von Exzellenz hängt schief und nur noch an einem Nagel in der Akademie

Aber wer hat hier eigentlich Pech? Die gut vernetzte Politologin, die sich nebenbei vielleicht längst ein zweites Standbein ausserhalb der Akademie als Beraterin aufgebaut hat? Oder die auf Exzellenz ausgerichtete Uni, die nun eine vom SNF als – eben – exzellent ausgewiesene Forscherin und Hochschullehrerin verliert? Oder die Steuerzahler, die jahrelang eine Karriere mitfinanzierten, die systembedingt in die Sackgasse führte?

Hinkende Vergleiche mit dem Spitzensport

Man kann es drehen, wie man will, dieses traditionelle Verständnis von Exzellenz hängt schief und nur noch an einem Nagel in der Akademie. Ins Bild passen die hinkenden Vergleiche mit dem Spitzensport, wie sie neulich auch am Podium des Wissenschaftsrats zu hören waren. Klar: Nur die wenigsten, die gerne und gut Fussball spielen, schaffen es auch in den Profi-Fussball oder gar in die Nationalmannschaft. Und wer zu wenig Leistung bringt, der fliegt aus dem Kader. Aber: Im Fussball gilt die laufende Evaluation nicht nur für die Spieler, sondern auch für die Trainer und die Sportdirektoren. Genauso klar: Nur wer herausragende Leistungen bringt, schafft es in die Top 10 der Tennisweltrangliste. Aber: Roger Federer ist mit 41 Jahren nach einer «Geschichte anhaltender Exzellenz», wie eine Sponsorin seine Karriere in einem Werbespot bezeichnete, als Tennis-Methusalem in einem Alter zurückgetreten, mit dem man im Wissenschaftsbetrieb gut und gerne noch als Nachwuchs durchgeht.

Auf die Disziplin kommt es an

Der Bericht des Wissenschaftsrats ist bewusst aus einer Makroperspektive verfasst. Das ist nachvollziehbar. Gleichzeitig scheint es sinnvoll, die Spezifika der einzelnen Fachbereiche stärker in den Vordergrund zu rücken. In den Geistes- und Sozialwissenschaften beispielsweise zeigen sich einige Probleme ausgeprägter als in den Natur- oder Technikwissenschaften: Geistes- und Sozialwissenschaftler sind im Durchschnitt etwas älter, wenn sie ihre erste Postdoc-Stelle antreten als Personen aus anderen Fächern (34 Jahre, Durchschnitt 32 Jahre) und sie sind früher wissenschaftlich unabhängig, weil Gruppen- und Laborarbeit weniger verbreitet sind als in den Mint-Disziplinen. Gleichzeitig sind sie viel häufiger in Teilzeitpensen angestellt.1 Zudem scheint in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein Postdoc für den ausserakademischen Arbeitsmarkt tendenziell keinen Vorteil zu bringen, was für eine frühere Selektion und eine berufliche Weichenstellung nicht erst auf Postdoc-Stufe spricht. Eine Analyse der BfS-Daten spezifisch für die Geistes- und Sozialwissenschaften wäre aufschlussreich.

«Die akademische Welt muss sich an die Anforderungen des heutigen Arbeitsmarktes anpassen, insbesondere an die Erwartungen der neuen Generationen, was ihre Unabhängigkeit und ihre Perspektiven betrifft», liess sich SNF-Direktorin Angelika Kalt kürzlich zitieren. Der Bericht des Wissenschaftsrats hat in seinen empirisch-analytischen Teilen die Grundlagen, auf denen diese Anpassungen gemacht werden müssen, erweitert. Die Schlüsse, die er daraus zieht – und an denen die SWR-Präsidentin in der Podiumsdiskussion eisern-orthodox festhielt – stimmen aber wenig zuversichtlich, dass sich in absehbarer Zeit ein produktives Gleichgewicht einstellen könnte. Die Mittelbau-Debatte bleibt so vorerst ein Dauerbrenner – zuungunsten vieler junger Forscherinnen und Forschern und zum Nachteil der Attraktivität der Universitäten und letztlich der Gesellschaft. 

Fussnoten

2020 waren ein Viertel der Postdocs in den Geistes- und Sozialwissenschaften in einem Pensum von weniger als 60 Prozent angestellt. Gleichzeitig ist die Zahl der Studierenden in den Geistes- und Sozialwissenschaften deutlich höher als in anderen Fachbereichen und das Betreuungsverhältnis entsprechend schlechter. Im Jahr 2021/22 gab es rund 48 000 Studierende in den Geistes- und Sozialwissenschaften, rund 33 000 in den Naturwissenschaften, und je 21 000 in der Medizin und den technischen Wissenschaften.

Referenzen

Actionuni (2017): Positionspapier zur Nachwuchsförderung an Schweizer Hochschulen.

Hildbrand, Thomas (2018): Next Generation: Für eine wirksame Nachwuchsförderung (Swiss Academies Reports 13,1). https://doi.org/10.5281/zenodo.1216424 

OECD (2021). Reducing the precarity of academic research careers (OECD Science, Technology and Industry Policy Papers 113).

Pétition Academia (2021) : Pétition adressée à l’Assemblée Fédérale: Pour la création d’emplois permanents dans le monde académique: de meilleures conditions de recherche, d’enseignement et de travail.

Schmidlin, Sabina, Eva Bühlmann und Fitore Muharremi (2020): Next Generation und Third Space: neue Karriereprofile im Wissenschaftssystem. Studie im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Swiss Academies Reports 15,3). https://doi.org/10.5281/zenodo.3923494 

Schweizerischer Wissenschaftsrat (2022): Postdoktorierende an Schweizer Hochschulen. 
Erkenntnisse und Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR.

Zürcher, Markus und Marlene Iseli (2018): Zur Diskussion: Qualität vor Quantität (Swiss Academies Communications 13,5). https://doi.org/10.5281/zenodo.1409674 

Zürcher, Markus: Vier Handlungsoptionen zur Stärkung des akademischen Mittelbaus (SAGW-Blog décodage), 14. Oktober 2021. https://www.sagw.ch/sagw/aktuell/blog/details/news/vier-handlungsoptionen-zur-staerkung-des-akademischen-mittelbaus 

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Heinz Nauer ist wissenschaftlicher Redaktor und Co-Verantwortlicher Kommunikation bei der SAGW.

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