Von Peter Dové
In vielen Texten der zeitgenössischen marokkanischen Literatur, sowohl in arabischer als auch in französischer Sprache, finden sich «schöne» Landschaften. Diese Landschaftsräume sind in mehrfacher Hinsicht interessant: Zum einen handelt es sich häufig um Räume, in denen die literarischen Figuren ein anderes, «besseres» und glücklicheres Leben erfahren können. Es sind Räume, die eine persönliche Entfaltung und ein intensiveres, erfüllteres Dasein ermöglichen. Ein Dasein, das frei ist von einengenden gesellschaftlichen Konventionen, und das geprägt ist von einem behutsamen und respektvollen Umgang mit der natürlichen Umwelt. Im Anschluss an den Romanist Uwe Dethloff können diese Landschaftsräume als «utopische Intention» verstanden werden. Utopie wird hier aber nicht als Darstellung einer idealen, geschlossenen, «phantastischen» Gesellschaft – im Sinne des Genres des utopischen Romans – verstanden. Das utopische Moment liegt in der Erzählung alternativer persönlicher und gesellschaftlicher Lebensweisen, die potentiell realisierbar sind. So wird in den Texten eine Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft formuliert, gleichzeitig werden Perspektiven aufgezeigt, die auf eine Verbesserung der – persönlichen, sozialen – Situation der jeweiligen Figuren oder Gesellschaften abzielen.
Die Landschaftsbeschreibungen können jedoch auch als Positionierungen innerhalb der Debatten um den politisch-kulturellen Charakter der nationalen Identität Marokkos gelesen werden. So wird Landschaft etwa als Metapher für ein arabisch-islamisch definiertes Marokko konstruiert oder dient als Ausdruck der amazigh, der Berber-Kultur, und damit als ein politisch-kultureller Gegendiskurs zur arabisch-islamischen Identität. Zudem sind diese «schönen» Landschaftsdarstellungen über solche «vordergründigen» politischen Aspekte hinaus eine «Sichtbarmachung» von Natur und skizzieren Idealvorstellungen derselben. Der Begriff «Landschaft» ist in diesem Sinne besonders aufschlussreich: Versteht man ihn – im Anschluss an französische Landschaftstheoretiker – als eine auf kulturell spezifische und damit auch auf eine potenziell unterschiedliche Weise konstruierte Natur, so kann eine Untersuchung von «Landschaft» Aufschluss geben über das Naturverständnis einer Gesellschaft und ihr Verhältnis zur natürlichen Umwelt.
Ecocriticism
Geisteswissenschaftliche Analysen von Natur und Naturverständnis anhand von literarischen Texten, werden im Rahmen der ecocriticism, der Ökokritik, seit einiger Zeit für verschiedene literarische Traditionen und Literaturen unternommen, aber erst seit relativ kurzer Zeit für die Literaturen der MENA-Region. Es ist dies ein Forschungskontext, in den sich auch mein Beitrag einschreibt.
Der ökologische Umgang mit der natürlichen Umwelt gehört zu den grossen Herausforderungen unserer Zeit. Die hier vorgestellten Texte sind nun aber nicht in einem aktivistischen Sinne ökologisch engagierte Texte, auch wenn Sorge und Verantwortung für die natürliche Umwelt durchaus positive Werte sind, die in diesen Texten vertreten werden. Die Texte sind besonders aus einer spezifisch ökokritischen Perspektive interessant. Denn sie formulieren – wenn auch mehrheitlich implizit – Lebensweisen und Haltungen für einen achtsamen Umgang mit Natur.
Die Auseinandersetzung damit ist in einer sich immer stärker globalisierenden Welt wichtig, da ein fruchtbarer Dialog über fundamentale Begriffe wie Natur und Umwelt überhaupt erst möglich werden kann, wenn es gelingt, mit unterschiedlichen, auch kulturellen Voraussetzungen anderer Gesellschaften vertraut zu sein.
Im Zentrum des Beitrags stehen drei realistisch erzählte Romane, anhand derer verschiedene Aspekte von Landschaft und Natur in der marokkanischen Literatur behandelt werden können: ʿĀm al-Fīl (Das Jahr des Elefanten, 1984) von Laylā Abū Zayd und Ni fleurs ni couronnes (2000) von Souad Bahéchar sowie die Erzählung Il était une fois un vieux couple heureux (2002, posthum erschienen) von Mohammed Khaïr-Eddine.
ʿĀm al-Fīl, Das Jahr des Elefanten, von Laylā Abū Zayd
Im Roman ʿĀm al-Fīl sind die schönen Landschaften ein Garten und eine kultivierte, blühende Agrarlandschaft. Dieser Garten ist ein Raum, in dem die weibliche Hauptfigur ihrer Kindheit Freiheit und glückliche Momente voller bezaubernder Sinneseindrücke erleben durfte. Zudem wird Landschaft metaphorisch eingesetzt, um Marokko emblematisch als islamisch-arabisches Land zu charakterisieren und – durch die Darstellung einer «verwelkten», desolaten Landschaft – die Desillusionierung nach Erlangung der Unabhängigkeit Marokkos zu versinnbildlichen.
Laylā Abū Zayd wurde 1950 in einem Dorf im Mittleren Atlas geboren. Sie studierte in Rabat und in London Journalismus und arbeitete anschliessend auf diesem Beruf. Sie war nicht nur für Zeitungen und Zeitschriften tätig, sondern auch für das Radio und die Staatsverwaltung.
Das Jahr des Elefanten ist ihr erster Roman und einer der allerersten von einer Frau auf Arabisch verfassten literarischen Texte, die in Marokko erschienen sind. Der Roman war ein grosser Erfolg in Marokko und gehört zum Lehrplan an marokkanischen Schulen. Laylā Abū Zayd veröffentlichte anschliessend weitere Romane und Kurzgeschichtenbände.
Laylā Abū Zayd ist perfekt dreisprachig; sie hat ausgezeichnete Kenntnisse in Arabisch, Englisch und Französisch, hat sich aber ganz bewusst für das Arabische als ihre Literatursprache entschieden. Marokkanische Autorinnen und Autoren, die mehrere Sprachen als Literatursprache beherrschen, sind selten; entscheidend für fundierte, insbesondere auch schriftliche Kompetenzen in einer Sprache – hauptsächlich Arabisch oder Französisch – ist in der Regel die Wahl einer frankophonen oder arabischsprachigen Schule; eine Wahl, die meist von den Eltern getroffen wird.
Der Roman ʿĀm al-Fīl spielt einige Jahre nach der Unabhängigkeit Marokkos und erzählt die Geschichte von Zahra, einer Frau aus einfachen Verhältnissen, die von ihrem Mann verstossen wurde, weil er an seiner Sekretärin Gefallen gefunden hatte. Zahra ist nach dieser Scheidung quasi mittellos. Alles, was ihr bleibt, ist eine Geschiedenen-Pension für hundert Tage und ein geerbtes Zimmer im Haus ihres verstorbenen Vaters in einer kleinen Stadt im Mittleren Atlas, wohin sie sich nun notgedrungen zurückzieht. Das Leben in ihrem Heimatort ist schwierig und einsam, alle ihre Angehörigen und Verwandten sind weggezogen oder verstorben. Zu ihrer Bezugsperson wird schliesslich ein Sufi-Scheich, den sie noch aus ihrer Kindheit kennt, und der ihr durch Gespräche aus der Krise hilft. Am Ende des Romans fasst Zahra neuen Mut und ist entschlossen, nie mehr von jemandem abhängig zu sein. Zahra reist nach Casablanca, wo sie eine Stelle findet und ein neues Leben beginnt.
Im Rahmen dieser Haupthandlung werden in Rückblenden Szenen aus dem bewaffneten Widerstand gegen die französische Protektoratsmacht, wie auch aus Zahras freier, glücklicher Kindheit erzählt. Es sind diese Erinnerungen, die Zahra die erlittene Ungerechtigkeit und ihre Abhängigkeit vor Augen führen, und sie in ihrem Entschluss bestärken, autonom zu werden.
Koransure 105 «Der Elefant»
Marokko erlangte 1956 die Unabhängigkeit, nach Jahren auch des gewaltsamen Kampfes. Zahra hatte an bewaffneten Aktionen teilgenommen, transportierte etwa heimlich Waffen für die Kämpfer im Untergrund. Im Roman wird kritisiert, dass all diese «kleinen» Helferinnen und Helfer um ihre Verdienste für die Unabhängigkeit betrogen worden seien. Nicht umsonst verweist der Titel des Romans, Das Jahr des Elefanten, auf die Koransure 105 «Der Elefant». Die Sure erzählt die Schlacht um Mekka im Geburtsjahr des Propheten, die der jemenitische König Abraha unter anderem deshalb verlor, weil Vogelschwärme die feindlichen Truppen mit Steinen bewarfen und deren Soldaten töteten. Durch diesen intertextuellen Verweis wird der Beitrag zur Unabhängigkeit, den «kleine Leute» wie Zahra geleistet haben, die wie die Vögel in der Sure kleine «Steinchen» geworfen hatten, durch den Titel des Romans hervorgehoben. Zudem werden ihre Ansprüche religiös legitimiert: Zahras Bitterkeit ist gross, wenn sie sich ihren Einsatz für die Unabhängigkeit Marokkos in Erinnerung ruft und ihre einstigen Hoffnungen mit ihrer aktuellen mittel- und machtlosen Situation vergleicht. Sie fühlt sich, wie viele andere, durch korrupte Profiteure um ihre Verdienste und die entsprechende Anerkennung gebracht.
Die «landschaftliche» Bildsprache des Romans ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Zu Beginn wird Zahras Rückkehr in ihr Heimatort, eine stark landwirtschaftlich geprägte Kleinstadt, erzählt. Zahra beklagt den Verfall der einst grünenden (Agrar)Landschaft. So sind die Wasserquellen versiegt, die Fruchtkulturen und sogar die Olivenbäume verschwunden. Explizite Vergleiche zur Situation der Nation vor und nach der Unabhängigkeit werden gezogen: die blühenden Hoffnungen, die mit der Unabhängigkeit verbunden waren, sind graukalter Tristesse gewichen. Die Landschaft wird zur Metapher für Marokko.
Zahra vergleicht diese einst fruchtbare Landschaft ihres Heimatorts mit den prachtvollen Landschaften des muslimischen Andalusiens. Durch die Gleichsetzung der emblematischen «marokkanischen» Landschaft ihrer Heimat mit der andalusischen, wird Marokko in die arabisch-islamische Geschichte eingeschrieben und somit als arabisch-islamische Nation definiert; eine für den marokkanischen Nationalismus durchaus charakteristische Verbindung von Islam und arabischer Kultur.
Die Unabhängigkeit der Frau und die postkoloniale Nation
Ein zweiter Strang von Rückblenden zeigt Szenen aus Zahras Kindheit. Es ist allem voran die Rede von der Freiheit, die Zahra als Mädchen genossen hat. Die sinnlichen Erlebnisse im Garten des Grossvaters nehmen dabei einen grossen Teil dieser Erinnerungen ein: die Düfte, das sprudelnde Wasser, die Farben, das Grün und die Pflanzen im Frühling. Auch in der Beschreibung dieses Gartens wird das islamische Andalusien evoziert. So finden sich in der Gartenbeschreibung Elemente der arabisch-andalusischen Poesie, die konstitutiv sind für die idealtypische Landschaft der andalusischen Dichtung, so wie es die Arabistin Brigitte Foulon in ihrer Arbeit zu Landschaftsdarstellung in der arabischen andalusischen Poesie analysiert hat: Etwa das aquatische Element, die Farben Grün und Blau, der Vogelgesang, eine wohlriechende Brise oder der erfrischende Schatten.
Es ist die Erinnerung an ihre freie Kindheit, an diese «andere» Zahra, die Zahra in ihrer Entscheidung bestärkt, als Frau unabhängig zu leben. Diese Erinnerungen haben für sie eine identitätsstiftende Funktion.
In den Landschafts- und Gartenbeschreibungen konvergieren die beiden thematischen Stränge des Romans. Die Unabhängigkeit der Frau wird verbunden – wie in so manchen postkolonialen Romanen – mit der Entwicklung der postkolonialen Nation: Das Schicksal, ganz besonders aber die Neudefinition der Rolle der Frau, können nicht losgelöst werden vom Schicksal und dem Aufbau der unabhängigen Nation.
All diese Landschafts- und Gartenbeschreibungen verweisen jedoch auf ein einziges, ideales Modell: den koranischen Paradiesgarten. Durch die Evokation der andalusischen Ideallandschaft, ist der koranische Paradies-Garten im Roman das Urbild, der «Kern» für die schönen Gärten und Garten-Landschaften. Die persönlichen Lebensentwürfe und das nationale Projekt, die im Garten erlebt oder durch den Garten verkörpert werden, finden darin ihre moralisch-spirituelle Grundlage und Rechtfertigung sowie auch die Werte und Haltungen im Umgang mit Natur.
Der Prozess zu einem unabhängigen Leben, den Zahra durchläuft, vollzieht sich nicht nur aufgrund der Hilfe des Sufi-Scheichs innerhalb einer arabisch-islamischen Tradition. Er wird auch durch die moralisch-spirituelle Gartenmetaphorik religiös fundiert und in diese Tradition eingebunden. Dieser Aspekt wurde in der Forschungsliteratur zu diesem Roman wiederholt diskutiert: Kann ʿĀm al-Fīl noch als feministischer Text charakterisiert werden, da die Emanzipation der Frau innerhalb eines patriarchalen Systems, wie Religion, erlangt wird, das die Autorin im Roman positiv darstellt und nicht grundsätzlich in Frage stellt? Laylā Abū Zayd vertritt antikoloniale Positionen und grenzt sich deutlich von westlichen Einflüssen ab. So hat sie denn auch – im Nachwort zur englischen Übersetzung ihres Romans Das letzte Kapitel – geschrieben, dass sie eher eine postkoloniale Lesart ihres Romans akzeptiert habe als eine feministische, die sie als reduzierend, gar abwertend empfand. Sie merkte aber an, dass je stärker sie mit feministischer Kritik und Theorie vertraut geworden sei, desto mehr habe sie festgestellt, dass sich eine feministische Lektüre durchaus auch auf ihren Text anwenden liesse. Sie habe ihren Text jedoch nicht bewusst emanzipatorisch auslegen, sondern einfach über ihre Erfahrungen als muslimische Frau in Marokko schreiben wollen.
Ni fleurs ni couronnes, von Souad Bahéchar
Knapp zwanzig Jahre nach ʿĀm al-Fīl erschien der Roman Ni fleurs ni couronnes von Souad Bahéchar. Er erzählt in mancherlei Hinsicht eine vergleichbare Geschichte wie ʿĀm al-Fīl, wenn auch anders akzentuiert und kontextualisiert. Der Roman handelt von der Entwicklung einer weiblichen Hauptfigur, Chouhayra, zu persönlicher und gesellschaftlicher Souveränität und Unabhängigkeit, jenseits der Zwänge der Stammesgesellschaft, der sie entstammt. Auch in Ni fleurs ni couronnes ist Landschaft ein «Paradiesgarten», kein «gezähmter», sondern ein wildes, unkultiviertes «Paradies», in dem Chouhayra, die als Kleinkind von ihrem Stamm verstossen wurde, am Rande der Gesellschaft aufwächst. Es ist diese «natürliche», «wilde» und «ursprüngliche» Sozialisation, die es Chouhayra ermöglicht, zu einer selbstbestimmten, unabhängigen Person zu werden.
Souad Bahéchar wurde 1953 in Casablanca geboren; studierte in Frankreich Kunstgeschichte und Archäologie und arbeitete nach ihrer Rückkehr nach Marokko als Kuratorin und freischaffende Autorin. Ni fleurs ni couronnes ist ihr erster Roman und wurde mit Grand Prix Atlas, der vom Service Culturel de l’Ambassade de France verliehen wird, ausgezeichnet. Es folgte noch ein weiterer Roman, Le concert des cloches (2005).
Der Roman setzt ein mit dem natürlichen Tod von Madame Chouhayri. Madame Chouhayri kam als Fremde in das Dorf der Mramda, einem Stamm, der an der Nordküste Marokkos lebt. Sie kaufte den Mramda den hinteren Abhang des Hügels ab, auf dem die Mramda ihren Obstgarten kultivierten. Madame Chouhayri liess den Garten verwildern, weil sie dort das Paradies, wie es im Roman explizit heisst, wiedererschaffen wollte, und sie bot kranken und verletzten Tieren, für die die Mramda keine Verwendung mehr hatten, eine Heimstatt und pflegte sie. Nach dem Tod von Madame Chouhayri nehmen sich die Mramda das Land – illegalerweise – zurück.
Chouhayra wird genau zu diesem Zeitpunkt geboren, ihr Vater tauft sie auf den Namen Chouhayra, eine «Versöhnungsgeste». Doch der Name wird der Kleinen zum Verhängnis: Da er an ihr Vergehen an Madame Chouhayra erinnert, wird das Mädchen von den Dorfbewohnern gemieden und verstossen.
Chouhayra lebt «wild» am Rande der Gesellschaft der Mramda, unter anderem auf jenem Hügel, auf dem Madame Chouhayri das Paradies neu erschaffen wollte, und in den Ställen. Sie imitiert die Tiere und lernt von ihnen. Chouhayra verbringt ihre Kindheitsjahre als eine Art Wolfskind. Erst als Jugendliche wird sie dank den Bemühungen eines Dorflehrers zumindest wieder teilweise in die Dorfgesellschaft integriert, sie entwickelt sich zu einer schönen und intelligenten jungen Frau. Sie verliebt sich in den Hirtenjungen Hachem. Die beiden schlafen miteinander, werden aber dabei ertappt. Chouhayra wird schwer bestraft: die Frauen der Mramda versengen ihr das Geschlecht. Noch in der Nacht fliehen die beiden zusammen nach Tanger.
In Tanger trennt sie sich von Hachem, als sie erkennt, dass dieser sich vom homosexuellen Herrn Doulabi aushalten lässt. Im Verlauf der Erzählung wird es Chouhayra in dieser Stadt jedoch gelingen, sich ein – kosmopolitisches – Umfeld und eine Familie aufzubauen. Sie wird quasi adoptiert von Luigi, der ein italienisches Restaurant führt, und es ihr schliesslich vererbt. Zudem lernt sie den Fotografen Najib kennen und lieben. Sie gründen zusammen eine Art patch-work Familie: Amna, eine in Frankreich aufgewachsene Tochter marokkanischer Emigranten, die in Marokko zwangsverheiratet werden soll, findet Zuflucht bei Chouhayra und Najib.
Sozialisation ausserhalb der Stammesnormen in der «paradiesischen» Natur
Chouhayra ist eine Frau, die es schafft, sich von den seelischen und körperlichen Verletzungen zu heilen. Sie wird als integre Figur charakterisiert, die sich weigert, sich in irgendeiner Form zu verkaufen und korrumpieren zu lassen. Wiederholt wird auf ihre Verbundenheit mit dem paradiesischen Hügel verwiesen. Es ist diese Sozialisation ausserhalb der Stammesnormen, in der «paradiesischen» Natur, die es ihr ermöglicht, eine unabhängige Persönlichkeit zu entwickeln und – wie es im Roman heisst – die «Archaismen zu überwinden».
Chouhayra, wie auch ihre Namensgeberin, Madame Chouhayri, pflegen einen respektvollen, empathischen Umgang mit den Tieren. Beide haben eine Sensibilität für die Schönheiten der Natur entwickelt – ganz im Gegensatz zu dem Profitdenken der Mramda, das im Roman verurteilt wird. Die schöne Natur ist in diesem Roman zwar eine verwilderte Natur, sie ist jedoch eindeutig als paradiesischer Garten konnotiert. Damit wird auch die Figur Chouhayra und ihre weitere Entwicklung, die ja ihren Ursprung in diesem Paradies-Garten hat, positiv bewertet. Wichtig für Chouhayras Entwicklung sind aber nicht nur Natur, sondern auch Kultur: die Lektionen des Schulmeisters im Dorf der Mramda sowie die Erfahrungen, die sie im kosmopolitischen Tanger macht. Es ist also kein «rousseaueskes» Menschenbild, das der Roman vertritt.
Zudem wird Chouhayra als Personifikation eines «anderen» Marokkos gezeichnet. Hält man sich ihre Entwicklung und insbesondere das happy-end des Romans vor Augen, wird Marokko Ni fleurs ni couronnes als kulturell «offene», mediterrane Nation verstanden.
Il était une fois un vieux couple heureux, von Mohammed Khaïr-Eddine
Der Landschaftsraum ist in dieser kurzen Erzählung ein Tal im Süden Marokkos; eine Region, die stark von der Kultur der amazigh geprägt ist. Die durch die Moderne ausgelösten Veränderungen im Tal und in der Lebensweise seiner Bewohner werden im Text durchaus skeptisch – auch in einer ökologischen Perspektive – kommentiert. Zentral für diesen Text ist jedoch eine sinnliche, ästhetische Freude an Landschaft und Natur sowie ein bewusster, rücksichtsvoller Umgang mit der Kultivierung der natürlichen Umwelt des Tals. Gleichzeitig werden Kultur und Lebensweise der amazigh dargestellt und affirmiert.
Der Autor Mohammed Khaïr-Eddine wird 1941 im Süden Marokkos, in Tafraout, geboren; den Grossteil seiner Kindheit und Jugend verbringt er in Casablanca. Der marokkanische Süden bleibt aber in seinem gesamten Werk ein politischer und kultureller Referenzpunkt sowie – besonders in den letzten Texten – ein Sehnsuchtsort.
Khaïr-Eddine lebt von 1965 bis 1980, zu einem grossen Teil während der années de plomb, einer Zeit harscher, brutaler Repression in Marokko, im französischen Exil, vor allem in Paris. In den achtziger Jahren kehrt er in sein Heimatland zurück, das er jedoch später erneut verlässt, abermals nach Frankreich. Seine letzten Jahre verbringt er wieder in Marokko, wo er 1995 in Rabat an den Folgen einer Krebserkrankung verstirbt.
Khaïr-Eddines seit den sechziger Jahren verfasste Texte sind von einer «experimentellen» Schreibweise geprägt, einer guerilla linguistique. Sie sind aggressiv-revolutionär in dem Sinne, als sie sich gegen die literarischen Konventionen der französischen wie auch der damals aktuellen marokkanischen Literatur wendeten, um nicht nur literarische, sondern auch gesellschaftliche Strukturen aufzubrechen und soziale Veränderungen herbeizuführen. Die achtziger Jahre markieren dann eine Zäsur in seinem literarischen Schaffen; die Erzählweise der Texte wird «konventioneller». Es sind realistische Texte, die wieder Geschichten erzählen und von einem Engagement für seine Kultur, die Kultur der amazigh, und deren Anerkennung geprägt sind.
Ich werde hier auf Il était une fois un vieux couple heureux eingehen, den letzten, noch zu Lebzeiten vollendeten Text von Khaïr-Eddine, der aber erst posthum erschienenen ist. Khaïr-Eddine hat ihn während seiner Krebserkrankung geschrieben und erst zwei Monate vor seinem Tod beendet. In diesem Text hat er sich, wie er es in seinem Tagebuch festhält, von den Schmerzen der Krankheit in ein anderes Leben weggeträumt.
Realistisch, beinahe dokumentarisch
Il était une fois un vieux couple heureux erzählt vom vergangenen Leben eines alten Paares. Der Text beginnt mit der Beschreibung der Ruinen ihres Hauses, um dann mit der Schilderung ihres Lebens fortzufahren. Das Paar lebt kinderlos – nach der Unabhängigkeit Marokkos – in einem Dorf in einem Tal im marokkanischen Süden. Beschrieben wird das tägliche Leben des Paares im Rhythmus der Jahreszeiten, immer wieder unterbrochen von langen Gesprächen der beiden über alltägliche Dinge wie das Essen und die Haustiere oder über die Geschichte ihres Landes, besonders des Südens, und die Veränderungen, die die Moderne in das Tal und das Leben seiner Bewohner bringt. So wird letztlich auch eine ganze Region mit ihrer ländlichen Kultur und ihrer Geschichte gezeichnet.
Das Lebenszentrum des alten Paares aber ist ihr Haus und ihr kleiner Garten, vor allem aber die Terrasse ihres Hauses, auf der sie viel Zeit verbringen, ihre Mahlzeiten einnehmen, sich erfreuen an der Natur, den Pflanzen, an ihren Haustieren, den Vögeln und am sternhellen Nachthimmel. Die Landschaft in Il était une fois un vieux couple heureux wirkt realistisch, bisweilen beinahe dokumentarisch: So werden Flora und Fauna mit naturwissenschaftlichen Begriffen benannt und aufgezählt. Landschaft und die Objekte in ihr sind konkret, greif- und verfügbar. Die Landschaft steht ‹für sich› und kann nicht allegorisch aufgelöst werden. Ins Zentrum rückt die unmittelbare Wahrnehmung der Landschaft durch das Paar; erzählt wird ihre sinnliche und ästhetische Erfahrung des Konkreten. Bouchaïb, ein gläubiger Muslim, lobt Gott, der es ihm erlaubt, all diese Momente des Friedens mit seiner Frau und den Wesen, die er liebt – seine Katze und sein Esel – erleben zu dürfen.
Es ist eine «paradiesische» Existenz, das das alte Paar haben durfte; ein Leben, das aber auch als vergangene «Idylle» bestimmt wird. Davon zeugen die Beschreibung der Ruinen ihres verfallenden Hauses zu Beginn der Erzählung. Auch hier ist die schöne Landschaft hauptsächlich eine kultivierte Landschaft: Der Autor unterscheidet dabei zwischen einem «Drinnen», das die Terrasse des alten Paares, den Garten und die Haustiere umfasst, und ein «Draussen», das auch von jagenden und damit tötenden Raubtieren belebt ist.
Der Text ist in mehrfacher Hinsicht politisch: Bouchaïb schreibt Poesie in amazigh, womit er seine sprachliche und kulturelle Tradition geltend macht. Dadurch kann der ganze Text als Affirmation der Kultur und Lebensweise der amazigh – zumindest so, wie Khaïr-Eddine sie versteht – gelesen werden – was durchaus ein Gegenentwurf ist zu der hegemonialen und monolithischen arabisch-islamisch Konzeption Marokkos, wie sie etwa Laylā Abū Zayd in ihrem Roman formuliert.
Die traditionell geprägte, ländliche Lebensweise des alten Paares wird – auch wenn es augenzwinkernd die eine oder andere moderne Annehmlichkeit in sein Alltagsleben integriert – als eine positive Gegenkultur zum entfremdenden, zerstörerischen Leben in der modernen Stadt inszeniert; der Text formuliert damit eine Modernisierungskritik, die auch eine ökologische Komponente enthält. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Haltung des alten Paares der Nahrung und der Nahrungsproduktion gegenüber. So schätzen die beiden aus geschmacklich-qualitativen Gründen die traditionelle Zubereitungsart der Mahlzeiten – insbesondere in tönernen und nicht in industriell hergestellten Gefässen – sowie die althergebrachte «Produktion» des Fleisches. Sie ziehen das Fleisch von erjagten Tieren dem industriell erzeugten Fleisch vor.
«Paradiesische Palimpseste»
Die schönen, «utopischen» Landschaftsräume in den vorgestellten Texten sind Gärten oder Garten-Landschaften, also Kulturland. Die Beziehung der Menschen zur natürlichen Umwelt in diesen Räumen ist geprägt von Respekt, einem sorgsamen Umgang und Empathie; es sind Rückzugsorte und Orte der emotionalen und sinnlichen Wahrnehmung von natürlicher Schönheit.
Was sich in diesen Texten hingegen nicht findet, ist eine für die romantische Tradition westlicher Literaturen charakteristische Faszination für wilde, erhabene Berglandschaften oder für das unbändige Meer. Vielmehr verweisen alle diese schönen Gärten oder Garten-Landschaften auf einen paradiesischen Ursprung (an dem die Welt auch neu geschaffen werden kann) und erzählen von der Sehnsucht nach einem Paradies. Es ist dieser Paradies-Topos, der den Garten- und Landschaftsbeschreibungen zu Grunde liegt und das Naturverständnis sowie die ästhetischen und ethischen Dimensionen von Naturwahrnehmung formt – und damit auch die Haltung gegenüber der natürlichen Umwelt bestimmt.
Peter Dové studierte Arabistik in Aix-en-Provence und Göttingen und promovierte 2003 an der Universität Bern zur modernen syrischen Literatur. 2010 publizierte er im Rahmen eines Projektes des Schweizerischen Nationalfonds eine Monographie zur Landschaft in der zeitgenössischen arabischen und frankophonen marokkanischen Literatur. Seit 2012 ist er Lehrbeauftrager für moderne arabische Literatur an der Universität Genf. Seine Forschungsschwerpunkte sind moderne arabische Literatur, Narratologie, Intertextualität, Satire, Phantastik/Groteske sowie Natur/Landschaft.
Primärliteratur
- Abū Zayd, Laylā: ʿĀm al-Fīl. Rabat 1984. (Deutsche Übersetzung: Abouzeid, Leila: Eine Verstossene geht ihren Weg. Mainz 2005.)
- Bahéchar, Souad: Ni fleurs ni couronnes. Casablanca 2000. (Deutsche Übersetzung: Bahéchar, Souad: Wüstenkind. München 2003.)
- Khaïr-Eddine, Mohammed: Il était une fois un vieux couple heureux. Paris 2002. (Deutsche Übersetzung: Khaïr-Eddine, Mohammed: Es war einmal ein glückliches Paar. Mainz 2004.)
Weiterführende Literatur
- Berque, Augustin: La pensée paysagère. Paris 2008.
- Burckhardt, Lucius: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. (Hrsg. Von Markus Ritter und Martin Schmitz). Kassel 2006.
- Collot, Michel: Paysage et poésie du romantisme à nos jours. Paris 2005.
- Dethloff, Uwe: Literatur und Natur. Literatur und Utopie. Beiträge zur Landschaftsdarstellung und zum utopischen Denken in der französischen Literatur. Tübingen 2005.
- Dové, Peter: Landschaft und Utopie. Studien zur erzählten Natur in der arabophonen und frankophonen Literatur Marokkos.Wiesbaden 2010.
- Foulon, Brigitte: La poésie andalouse du XIe siècle. Voir et décrire le paysage - Etude du recueil d'Ibn Ḫafāǧa. Paris 2011.
- Hall, Michael: „Leila Abouzeid’s Year of the Elephant: A post-colonial Reading.“ In: Women: A Cultural Review 6/1 (1995), 67-79.
- Kirchhoff, Thomas/Trepl, Ludwig (Hrsg.): Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökologie als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld 2009.


Be the First to Comment