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Ich konsumiere, also bin ich

Autorin: Jeannette Behringer (Universität Zürich) | Redaktion: Stella Noack (SAGW)
Nachhaltigkeit

Nachhaltige Entwicklung fordert verschwenderischen Massenkonsum zu begrenzen. Der Diskurs über einen «nachhaltigen Konsum» greift dafür zu kurz. Nötig sind interdisziplinäre Ursachenanalysen und die demokratische Umsetzung von Reduktion.

Beginnen wir mit der Kehrseite des Konsums – beginnen wir mit dem Abfall. Die Schweiz gehört hier zu den europäischen Spitzenreitern, mit weiter steigender Tendenz. Pro Jahr produziert sie 80 bis 90 Millionen Tonnen Abfall, wobei knapp zwei Drittel auf den Bereich des Bauens entfallen, gefolgt von Siedlungsabfällen mit rund 6.1 Millionen Tonnen und einem Rest biogenen Ursprungs.1

Im Jahr 2021 betrug die Abfallmenge pro Person 698 Kilogramm, während es im Jahr 1970 noch 309 Kilogramm waren. Die Hoffnungen, dass sich Konsum und damit Abfall in und nach der Corona-Pandemie nur gering steigern oder gar senken könnten, haben sich nicht bewahrheitet. Und die Rufe nach einer «neuen Bescheidenheit», auch im Interesse einer Nachhaltigen Entwicklung, sind folgenlos geblieben.

Wenn der Diskurs das Ziel ersetzt

Die Abfallstatistik zeigt eine problematische Seite eines dominanten Diskurses im Bereich der Nachhaltigen Entwicklung: Die eines «nachhaltigen Konsums». In dieser adjektivischen Anordnung findet eine geschmeidige Vermählung statt: Konsumiert wird weiterhin, aber ab sofort «nachhaltig». Die Zukunftsforschung identifiziert Nachhaltigkeit und «Neo-Ökologie» als Megatrend, als «Lawine in Zeitlupe».2 Dabei betont auch sie, dass wir anders konsumieren müssen und das heisst «besser» statt immer mehr.

Ganz im Sinne eines Megatrends mangelt es nicht an Kommunikation und Diskussion über Nachhaltige Entwicklung. Das Ausmass ist immens und inzwischen in allen Subsystemen der Gesellschaft angekommen: Bürgerinnen und Bürger befassen sich mit nachhaltigen Lebensstilen, Unternehmen mit sustainable solutions und wie sie die dazugehörige Regulierung beeinflussen können,3 die Politik mit der «Nachhaltigen Schweiz», die Zivilgesellschaft gründet Netzwerke für Transformation. Und schliesslich steckt die öffentliche Hand viel Geld in Forschung, die nach wie vor Technologien entwickeln soll, um zum Beispiel Treibhausgasemissionen aus der Luft zu filtern und im Boden zu versenken4 oder um hinter uns aufzuräumen.5

Nachhaltige Entwicklung ist rund 30 Jahre nach der «Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung» endgültig im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Jedoch erschöpft sich die Debatte zu sehr in wünschenswerten und wolkigen Zielen – «nachhaltiger Konsum» – und tendiert gleichzeitig dazu, nicht nachhaltige Entwicklungen im Thema auszublenden: Der Materialverbrauch durch Konsum ist schlicht zu hoch. Sprechen wir also mehr als bisher – und in interdisziplinären Settings! – über Ursachen und Auswirkungen. Die Ursachen des Konsums liegen in ökonomischen, kulturellen und psychologischen Funktionen, die über die Befriedigung von Grundbedürfnissen weit hinausgehen. Auswirkungen des Konsums sind unsere zu hohen Abfallberge mit weitreichenden globalen ökologischen und sozialen Folgen, sei es der Verschiebebahnhof, Second Hand oder die Verlagerung problematischer Stoffe ins Ausland.

Transformative Forschung: Veränderung als Aufgabe

Am Beispiel von Konsum und Abfall offenbaren sich Fragestellungen für eine lebenswerte Zukunft, die die Einhaltung planetarer Grenzen als systematische Voraussetzung für gesellschaftliche und ökonomische Veränderungsprozesse betrachten.

Diese gesamtgesellschaftliche Transformation lässt bisher auf sich warten. Sie erfordert eine systematischere Befassung mit ökologischen Grenzen und eine Neujustierung von Freiheit unter diesen Voraussetzungen. Nach wie vor sind der unendliche Verbrauch von Gütern und die Nutzung von Dienstleistungen die Treiber unseres Marktwirtschaftssystems. Sie dienen in gesättigten Märkten der Wohlstandsgesellschaften nicht nur der Befriedigung von Grund-, sondern auch von Luxusbedürfnissen, und dies in immer rascheren Konsumzyklen. Materieller Konsum ist heute Träger immaterieller Bedürfnisse, wird überfrachtet mit kulturellen und individuellen Versprechen nach Sinn und Zugehörigkeit, gesellschaftlichem Status und Sicherheit.

Auch im Umgang mit Konsum werden Effizienz- und Konsistenzstrategien favorisiert, wobei technologische Hebel und Lösungen als vermeintliche Auswege dominieren. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft, ein aktuelles Beispiel für Konsistenz, suggeriert dabei, so die Techniksoziologin Heike Weber, dass ein folgenloser und «nebenwirkungsfreier Konsum» möglich sei6Ent-sorgung wörtlich genommen. Zwar werden heute circa 70 Prozent des Abfalls in der Schweiz wiederverwertet. Bezogen auf den Materialverbrauch macht diese Wiederverwertung jedoch weniger als ein Fünftel aus. Gemessen an einem Materialfussabdruck von rund 17 Tonnen pro Person und Jahr entspricht das nur einem geringen Bruchteil.

Um die bestehende Ressourcenverschwendung zu verringern, liegt seit langem eine Hoffnung auf den sogennanten «R-Strategien» – das lateinische Präfix «re» steht dabei für «wieder» oder «zurück». Ziel ist es, den Verbrauch von Rohstoffen zu vermeiden oder zu senken, Rohstoffe so lange wie möglich weiterzuverwenden oder Rohstoffe aus nicht mehr verwendeten Produkten zurückzugewinnen. «Reduce», «Reuse», «Recycle» ist dabei die populärste «R-Trilogie». Mittels «Repair-Cafés» thematisiert die zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsszene die Notwendigkeit des Wiederherstellens und auch das Handwerk wird als wichtige Branche wiederentdeckt. «Reuse», beispielsweise durch Second-Hand-Märkte, ist ein bewährter und guter Ansatz, vermochte jedoch einer überproduzierenden Industrie im Textilbereich kaum etwas entgegensetzen.7 «Reduce» ist ein Aufruf zu suffizientem Verhalten, manchmal begleitet von der Aufforderung zu «Rethink», also zum Umdenken oder, und gar einer aktiven Ablehnung von Konsum: «Refuse». So hat sich zwar eine kritische Reflektion des Konsums etabliert – Konsumboykotte und Konsumbuykotte werden auch zu neuen Formen der politischen Partizipation gezählt – jedoch beeinflusst diese bis jetzt wenig bis kaum konkretes Konsumverhalten der breiten Bevölkerung. Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass rund zwei Drittel der Ressourcenbelastung durch Konsum im Ausland anfallen.

Der berühmte Soziologe Jean Baudrillard beschrieb Konsum als gesellschaftliches System mit eigenen Symbolen, Zeichensystemen und Zielsetzungen. Neben der Dekonstruktion von Konsum und Abfall hinsichtlich seiner verschiedenen gesellschaftlichen und individuellen Funktionalitäten und eines Diskurses über Konsumbedürfnisse und ihrer Entstehung muss analysiert werden, wie nationale und internationale Prozesse Konsum und Abfall verteilen. Dabei geht die vielleicht anspruchsvollste Aufgabe über das Konsumsystem hinaus: Denn längst ist der Anspruch des Konsumierens in andere Teilsysteme der Gesellschaft «diffundiert», wird uneingeschränkter Konsum als demokratisches Recht eingefordert. Eine unausweichliche Einschränkung dieser «Freiheit» durch demokratische Politik gefährdet diese inzwischen selbst. Weshalb Konsumpolitik auch eine Frage nach «Reconnect» mit Demokratie ist.

Referenzen

[1] Bundesamt für Statistik: Umweltindikator – Siedlungsabfälle. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/raum-umwelt/umweltindikatoren/alle-indikatoren/emissionen-und-abfaelle/siedlungsabfaelle.html, Stand: 20.07.2023.

[2] Zukunftsinstitut: Megatrend Neo-Ökologie. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-neo-oekologie/, Stand: 20.07.2023.

[3] Deloitte: Verantwortung als Chance. Das Transformationsthema Sustainability. https://www2.deloitte.com/de/de/pages/risk/articles/sustainability-transformation.html, Stand: 20.07.2023. 

[4] ETH Zürich: Carbon capture and storage. https://epse.ethz.ch/research/research-areas/carbon-capture-and-storage.html, Stand: 20.07.2023.

[5] Lanz, Stefan: So viel Abfall schmissen Züri-Fäscht-Besucher in die Limmat, in: 20min.ch, 10.07.2023, https://www.20min.ch/story/so-viel-abfall-schmissen-zueri-faescht-besucher-in-die-limmat-494734844122, Stand: 20.07.2023.

[6] Weber, Heike (2020): Zeit- und verlustlos? Der Recycling-Kreislauf als ewiges Heilsversprechen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12,23–2, S. 19–31. https://doi.org/10.14361/zfmw-2020-120204

[7] Herrberg, Anne: Müllhalde für Fast-Fashion, in: tagesschau.de, 26.11.2021, https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/muellhalde-atacama-wueste-101.html, Stand: 20.07.2023.

Weiterführende Literaturangaben

Baudrillard, Jean (2015): Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Herausgegeben von Kai-Uwe Hellmann und Dominik Schrage. Übersetzt von Annette Foegen. VS Verlag für Sozialwissenschaft, Wiesbaden

Lepenies, Philipp (2022): Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens. Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Reusswig, Fritz (1997): Nicht-nachhaltige Entwicklungen: Zur interdisziplinären Beschreibung und Analyse von Syndromen des Globalen Wandels, in: Brand, KW. (Hg.): Nachhaltige Entwicklung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 71-90. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93682-0_4

Süßbauer, Elisabeth, Staudacher, Cassiopea, Sattlegger, Lukas (2023): Ambivalenzen des Mülls – Soziologie der Abfallerzeugung und Abfallvermeidung, in: Sonnberger, M., Bleicher, A., Groß, M. (Hg.): Handbuch Umweltsoziologie. Springer VS, Wiesbaden, S. 1-14. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37222-4_47-1

Zur Autorin

Jeannette Behringer ist promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin (Dr. rer. pol.) und Ethikerin (MAE). Seit 2020 ist sie Verantwortliche Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre an der Universität Zürich. Sie ist Gründerin und Leiterin des Forums «Demokratie und Ethik» (www.demokratie-ethik.org). Schwerpunkte: Demokratie; Suffizienz; Partizipation und Zivilgesellschaft.

Projekthinweis: Vom 11.-15. September 2023 findet an der Universität Zürich die Studienwoche «Nachhaltige Entwicklung und Transformation» statt. Weitere Informationen: https://www.sustainability.uzh.ch/de/forschung-lehre/lehre/Studienwoche.html

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