Von Mina-Karima Hatef
«Gott hat kein Gebot erlassen» – mit dieser These aus ihrem 2021 erschienen Buch Der Pfad der Prophetie vollzieht Ṣidīqa Vasmāqī einen radikalen Bruch mit der islamischen Tradition. Sie versteht Religion nicht als göttliche Offenbarung, sondern als Ergebnis der Reflexionen des Propheten, der, beeinflusst von den Bräuchen seiner Zeit, eine kreative Idee zur Lösung sozialer Probleme entwarf. Damit entzieht sie dem traditionellen islamischen Recht seine sakrale Grundlage und argumentiert, dass als heilig geltende Gesetze menschgemachte Konstrukte sind.
Mit dieser Kritik an den Fundamenten der Scharia steht Vasmāqī im iranischen Reformdiskurs keineswegs allein da. Sie ist Teil einer breiten Bewegung religiöser Denker:innen, die seit den 1980er-Jahren den Mut aufbringen, den Islam kritisch zu untersuchen. Sie stellen Fragen nach dem historischen Kontext der Offenbarung, nach der Rolle der Vernunft oder der Bedeutung der Scharia und tragen damit zu einer lebendigen, pluralen Debatte bei, die weit über den theologischen Rahmen hinausreicht.
Und doch ist Vasmāqī eine Ausnahmestimme. Als Frau in einem Diskurs, der bis heute stark von Männern dominiert wird, bringt die 64-Jährige Erfahrungen und Perspektiven ein, die sonst selten Beachtung finden. So kritisiert sie zum Beispiel die Unterdrückung von Frauen durch Praktiken wie die Vielehe, das Scheidungsrecht, die Vormundschaft des Vaters oder Grossvaters und stellt damit die männlich geprägte Auslegung des islamischen Rechts grundsätzlich in Frage.
Zusätzliches Gewicht erhält Vasmāqīs Wirken innerhalb des iranischen Establishments durch ihre früheren Tätigkeiten als Professorin und Teheraner Stadträtin. Diese Verbindung von akademischer Expertise, persönlicher Integrität und konsequentem Aktivismus verleiht ihrer radikalen Kritik an der islamischen Jurisprudenz (fiqh) besondere Glaubwürdigkeit. Ihre Position ist Ausdruck einer gelebten Überzeugung, die ihr Denken prägt und sie zu mutigen Schlüssen führt. Sie widersetzte sich etwa offen dem Hidschab-Zwang und kritisierte das iranische Rechtssystem sowie die zentrale Rolle der Juristen (fuqahā). In diesem Zusammenhang weigerte sie sich auch, einer Vorladung vor das Revolutionsgericht (dādgāh-i inqilāb) Folge zu leisten, da sie die Institution als illegitim betrachtet. In ihrem Beitrag Nein zur Banalisierung der Unterdrückung auf der iranischen Newsplattform Zeitoons vom Mai 2023, rief Vasmāqī zu einem Referendum über die Zukunft der Islamischen Republik auf und bezeichnete dieses als friedlichen Weg, die bestehende Staatskrise zu überwinden.
Auch theologisch setzt sich Vasmāqī über die Grenzen des traditionellen Denkens hinweg. Sie scheut nicht davor zurück, zentrale Annahmen wie die Unveränderlichkeit des islamischen Rechts oder das klassische Verständnis von Prophetie neu zu deuten. Zwar verfolgen auch andere iranische Reformdenker wie etwa ʿAbdolkarīm Surūš und Moḥammad Mojtahed Šabestarī das Ziel, eine unbefangene Reflexion islamischer Texte auf der Grundlage zeitgenössischer Erkenntnisse zu ermöglichen, Vasmāqī unterscheidet sich jedoch in ihrem methodischen Ansatz. Sie bleibt nicht bei hermeneutischen Fragen der Textauslegung stehen, sondern rückt die Entstehungsgeschichte des Korans und des islamischen Rechts selbst ins Zentrum ihrer grundlegenden Infragestellung.
Eine biographische Spurensuche
Ṣidīqa Vasmāqī wurde 1961 in Teheran geboren. Ihre intellektuelle Neugier zeigte sich schon früh. In ihrem Buch, Warum ich gegen den Hidschab rebellierte, das dieses Jahr publiziert wurde, erinnert sie sich an die Zeit ihrer Studienwahl:
«Meine Entscheidung für das Studienfach Theologie entsprang nicht einer Liebe oder Leidenschaft für die Religion und Scharia. Es waren vielmehr meine Fragen und inneren Anliegen, die mich zu dieser Entscheidung drängten. Fragen, auf die andere Studienrichtungen keine Antwort geben konnten. Meine Überzeugungen hatten einen entscheidenden Einfluss auf mein Leben. Ich fragte mich: Kann das beste Studium der Ingenieurwissenschaften wirklich auf deine Sorgen antworten? Meine Antwort auf diese Frage war klar: nein».
Ihr Werdegang begann mit einer traditionellen theologischen Ausbildung an der Madrasa-yi Muṭahharī, einer Hochschule für islamische Lehre. Später wechselte sie an die theologische Fakultät der Universität Teheran, wo sie ihren Bachelor machte, promovierte im Anschluss daran in islamischem Recht und wurde 1991 Dozentin. Sie gewann Ansehen als Juristin, Theologin und bald auch als Politikerin. Unter Präsident Mohammad Khatami (1999–2003) war sie Mitglied des Teheraner Stadtrats. Doch nach der umstrittenen Wiederwahl von Mahmoud Ahmadinejad im Jahr 2009 und der gewaltsamen Niederschlagung der Grünen Bewegung schloss sie sich den Protesten an. 2011 verliess sie den Iran, ging ins Exil nach Deutschland und Schweden, übernahm Lehraufträge an der Universität Göttingen sowie an der Universität Uppsala. Ihre Rückkehr in den Iran im Jahr 2017 verlief nicht konfliktfrei. Sie wurde bei der Einreise festgenommen und für kurze Zeit inhaftiert. Dennoch trat sie im Iran fortan als kritische Stimme gegenüber dem politischen System auf.
Spätestens während der Proteste der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» 2022, wurde ihr Bruch mit dem System unübersehbar. Dass sie den Hidschab öffentlich ablegte, war dabei mehr als ein politisches Signal: Es war Ausdruck ihrer theologischen Überzeugung. Ṣidīqa Vasmāqī stellte sich offen gegen das religiöse Establishment und nahm dafür erneut eine Gefängnisstrafe in Kauf.
Radikale Revision statt oberflächlicher Kosmetik: Vasmāqīs Blick auf das islamische Recht
Ṣidīqa Vasmāqīs Ansatz zielt auf eine grundlegende Neuausrichtung des Rechtsystems ab. Besonders deutlich wird dies in ihrem Werk Neulesung der Scharia (2017), in dem sie argumentiert, dass soziale Gesetze nicht in den Geltungsbereich der Scharia gehören. Für Vasmāqī ist das islamische Recht (Aḥkām-i sharʿī) keine von Gott offenbarte, abgeschlossene Gesetzessammlung, sondern ein historisches Produkt, das erst nach dem Tod des Propheten von muslimischen Rechtsgelehrten formuliert und systematisiert wurde. Diese stützten sich auf unsichere Quellen wie die Hadith-Literatur, und auf Annahmen, die stark von den sozialen Konventionen ihrer Zeit geprägt waren.
Vasmāqīs setzt in ihrer Kritik direkt an den Wurzeln des islamischen Rechts an: Sie hinterfragt sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die Methodik, die von den Juristen zur Ableitung von Normen herangezogen wird. Indem sie die vertraute Sprache der Rechtsgelehrten aufgreift, legt sie deren Voraussetzungen offen und zeigt, dass viele Regeln auf vorislamischen Praktiken und den Lebensgewohnheiten der arabischen Gesellschaft zur Zeit des Propheten beruhen. Ihre Anwendung in der heutigen Zeit sind für sie unvereinbar mit modernen ethischen Vorstellungen und Rechtsverständnissen. So erachtet sie etwa die ḥudūd-Strafen, wie Steinigung bei Ehebruch, Handabhacken beim Diebstahl oder die Todesstrafe für Apostasie, als Ausdruck der damaligen Stammeskultur, nicht aber als ewige Gebote.
Auch das Zeugenschaftsrecht (šahāda), nach dem die Aussage zweier Frauen einer Männerstimme gleichgestellt ist, sei nicht zeitlos gültig, sondern spiegle lediglich die damalige geringe Beteiligung von Frauen an Finanzgeschäften wider. Ein ähnliches Muster erkennt Vasmāqī beim Erbrecht (mīrāṯ) sowie beim Blutgeld (diyya): Dass Männer dabei bevorzugt wurden, resultierte gemäss Vasmāqī aus der ökonomischen Abhängigkeit der Familien von Männern und ihrer Verpflichtung, im Falle eines Totschlags das Sühnegeld zu tragen. Auch diese traditionellen Regeln seien heute nicht mehr angemessen, da sich die ökonomischen Strukturen in muslimisch geprägten Gesellschaften, wie der iranischen, geändert haben – was sich unter anderem daran zeigt, dass Frauen zunehmend finanzielle Verantwortung übernehmen.
Viele Rechtsgelehrte anerkennen zwar theoretisch, dass die Vernunft (ʿaql) Gut und Böse sowie Nutzen und Schaden unterscheiden kann. Dennoch passen sie ihre Rechtsmeinungen kaum an die veränderten Realitäten an. Für Vasmāqī ein Widerspruch: Wer die Vernunft als Massstab anerkennt, muss auch die Veränderbarkeit historisch gewachsener Gesetze akzeptieren. Deshalb wendet sie sich entschieden gegen blinde Nachahmung und fordert eine Rechtsfindung, die sich auf rationale Prinzipien wie Vernunft und Gemeinwohl stützt.
Während andere Reformdenker:innen Normen wie Regelungen zu Ehe, Scheidung oder Blutgeld lediglich als zeitlich begrenzt deuten, stellt Vasmāqī infrage, ob viele dieser Vorschriften überhaupt zur «Scharia» im eigentlichen Sinne gehören. Damit verschiebt sie die Debatte grundlegend. Es geht nicht mehr nur um eine historisch flexible Scharia, sondern um die Frage, ob viele ihrer Regeln jemals göttlichen Ursprungs waren. Vasmāqī kommt zum Schluss, dass das im Fiqh kodifizierte islamische Recht weder «den Islam» noch den Willen Gottes repräsentiert. Seine Grundlagen und Methoden sind brüchig, weshalb sie in vollem Umfang kritikanfällig sind und einer Erneuerung bedürfen.
Auch wenn die Ansätze und Kritikpunkte Vasmāghis im Iran von Gelehrten bislang kaum öffentlich diskutiert wurden, zeigen sie doch Wirkung. Da Vasmāghi mit den vertrauten Methoden und Begriffen der Rechtsgelehrten arbeitet und ist es schwierig, sich ihre Argumentation zu widerlegen. Gleichzeitig bleiben ihre Überlegungen anschlussfähig für reformorientierte Leser:innen, die die Spannung zwischen klassischem Recht und moderner Lebenswirklichkeit seit Langem thematisieren
Hadith-Literatur – eine unsichere Grundlage für weitreichende religiöse Urteile
Besonders deutlich wird Vasmāqīs Kritik in ihrer Analyse der Hadith-Literatur, die sie als unsichere Grundlage für weitreichende religiöse Urteile betrachtet. Sie weist darauf hin, dass die Verschriftlichung der Sunna, der Aussagen und Handlungen des Propheten, erst lange nach dessen Tod begann. Die meisten dieser Überlieferungen wurden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben.
Dieser Prozess der mündlichen Überlieferung machte die Berichte anfällig für Fehler. So kam es vor, dass Berichte schlicht vergessen, unbeabsichtigt ausgelassen oder sogar bewusst gefälscht und verzerrt wurden. Wie Vasmāqī betont, handelt es sich bei den meisten Hadithen um Einzelüberlieferungen (ḫabar wāḥid), um Berichte, die nur von einer oder wenigen Personen überliefert wurden. Deren Richtigkeit ist damit weniger zuverlässig als es bei einer vielfachen Überlieferung (tawātur) der Fall wäre. Also können solche Hadithe keine verlässliche Gewissheit (ʿilm) schaffen, und folglich ist es unhaltbar, verbindliche Rechtsnormen auf der Grundlage derart unsicherer Quellen zu formulieren, schon gar nicht in so heiklen Fragen wie dem Strafrecht: Die Todesstrafe durch Steinigung (raǧm), zum Beispiel, wird laut Vasmāqī nicht im Koran erwähnt, sondern fand ihren Eingang in die islamische Rechtslehre erst durch fragwürdige Hadithe. Eine so schwere Strafe auf derart brüchige Quellen zu stützen, stellt für die Religionsphilosophin einen Widerspruch zu den Prinzipien der Gerechtigkeit und dem eigentlichen Geist der Religion dar.
Der Koran: Offenbarung im Kontext seiner Zeit
Auch der Koran selbst wird von Vasmāqī mit kritischem Blick analysiert. In Neulesung der Scharia (2017) betont sie die ursprüngliche Mündlichkeit des Korans. Der Eindruck eines starren Gesetzbuchs kristallisierte sich erst durch die spätere Verschriftlichung heraus – ein Prozess, der die Komplexität der mündlichen Überlieferung nur unvollständig bewahrte. Zur Zeit des Propheten gab es keine vollständige schriftliche Fassung des Korans, vielmehr war er eine lebendige Rede, die Verse wurden unterschiedlich gezählt und bezogen sich in ihrer Überlieferung stets auf konkrete Situationen. Viele entstanden im direkten Dialog mit den Zuhörer:innen, griffen ihre Bräuche, kulturellen Praktiken und auch aktuelle Ereignisse auf.
Ein Beispiel dafür ist das Verbot der vorislamischen Scheidungspraxis Zihār (Q 58:2–3). Ohne das Wissen um diesen historischen Kontext, so Vasmāqī, lässt sich die Absicht hinter den Versen kaum erfassen. Zihār war auf der vorislamischen arabischen Halbinsel eine spezifische, einseitig vom Mann ausgesprochene Scheidungsform, die oft im Zustand von Zorn oder Streit ausgesprochen wurde. Die Problematik dieser Praxis bestand in den Folgen für Frauen. Zwar wurde die Frau durch ẓihār für ihren Mann unberührbar. Sie galt jedoch nicht als vollständig geschieden, sondern geriet in einen Schwebezustand, in dem sie weder zu ihrer Familie zurückkehren noch einen neuen Ehemann heiraten konnte. Mit dem Verbot dieser Praxis zielte der Koran darauf ab, einen bestehenden Brauch zu reformieren und ihn gerechter zu machen.
Daraus ergibt sich für Vasmāqī eine klare Konsequenz: Eine kontextlose Anwendung juristischer Verse widerspricht dem Wesen des Korans. Rechtsauslegungen müssen die jeweilige Lebenswirklichkeit berücksichtigen, nicht bloss alte Formeln wiederholen. Viele sogenannte āyāt al-aḥkām («Rechtsverse») sind daher nicht als absolute Vorschriften zu verstehen. Ihr eigentlicher Gehalt liegt im Prinzip der Gerechtigkeit, das sich in verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausprägen kann.
Frauenrechte im Fokus: Kritik an patriarchalen Auslegungen
Vasmāqīs reformistischer Anspruch kommt in ihrem Werk Frau, Rechtswissenschaft, Islam (2008) ganz besonders zum Tragen. Sie zeigt, dass viele geltende Regelungen in Bezug auf die Stellung der Frau im islamischen Recht, die Vormundschaft des Vaters, das einseitige Scheidungsrecht des Mannes oder die Regelung des halben Blutgelds für Frauen, weniger auf göttlicher Offenbarung beruhen, als auf männlich dominierter Interpretationen, die auf den patriarchalen Strukturen frühislamischer Gesellschaften basieren.
Auch die Kopftuchpflicht reiht sich in dieses Muster ein. In ihrem 2025 erschienenen Buch Warum ich gegen den Hidschab rebellierte, stellt sie klar, dass das Bedecken der Haare für Frauen «in der traditionellen islamischen Scharia-Struktur auf Grundlage religiöser Belege nicht obligatorisch ist». Die einschlägigen Vorschriften stützten sich auf subjektive Auslegungen von Rechtsgelehrten – deren Rolle Vasmāqī ebenfalls kritisch betrachtet.
Religiöse Autorität – ein menschliches Konstrukt
Vasmāqī analysiert anhand der historischen Entwicklung des Fiqh, wie sich Gelehrte im Lauf der Jahrhunderte von Auslegern zu legislativen Autoritäten entwickelten. Dieser Wandel verlieh der Religion zunehmend ein juristisches Gesicht, wodurch spirituelle und ethische Dimensionen in den Hintergrund rückten.
In ihrem Buch Die Substanz des Fiqh und die Reichweite der Macht der Rechtsgelehrten (2009) schreibt Vasmāġī, dass das iranische Rechtssystem in den Bereichen Zivil- und Strafrecht auf der Grundlage des Scharia-Verständnisses der herrschenden Rechtsgelehrten formuliert wurde. Die Gültigkeit der Gesetze werde dabei an ihrer Übereinstimmung mit der jeweiligen Auffassung von der Scharia gemessen. Vasmāġī kritisiert, dass diese Rechtskultur als unveränderlich und göttlich dargestellt wird, obwohl sie in Wirklichkeit ein Produkt gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen ist. In ihrem Buch Neulesung der Scharia (2017) hält sie fest:
«Im Koran wird deutlich gemacht, dass das Tragen einer Bedeckung (pušiš) für ältere Frauen nicht verpflichtend ist; dennoch darf keine ältere Frau ohne Hidschab in der Öffentlichkeit erscheinen. […] Zu solchen Gesetzen treten zudem die Fatwas hinzu, die Muftis und religiöse Autoritäten im Namen des Islam erlassen, obwohl diese in Wirklichkeit lediglich ihre persönlichen Interpretationen und Vorlieben darstellen. […] Viele Muslime glauben dennoch, dass solche Fatwas eine religiöse Grundlage hätten, obwohl dies nicht der Fall ist.»
Prophetie als Ausdruck einer inneren Suche nach dem Göttlichen.
In ihrem späteren Werk Der Pfad der Prophetie (2021) geht Vasmāqī noch einen Schritt weiter: Sie hinterfragt die traditionelle Vorstellung von Prophetie und Offenbarung grundsätzlich. Ihrer Auffassung nach ist Prophetie kein übernatürliches Geschehen, sondern Ausdruck eines geistigen, im Menschen selbst wurzelnden Prozesses, einer inneren Suche nach dem Göttlichen.
Dabei wendet sie eine nicht-religiöse, kritisch-analytische Methode an, die sich auf historische und archäologische Daten stützt. Ihr Ziel ist es nicht, die Existenz Gottes zu leugnen, vielmehr geht es ihr darum, das menschliche Verständnis Gottes als einen evolutionären Prozess darzustellen.
Die Offenbarung erscheint in diesem Verständnis als spirituelle Intuition: eine tiefe, existenzielle Erkenntnis, die aus Reflexion und dem Streben nach Wahrheit erwächst. Diese Sichtweise entmythisiert die Prophetie und verortet sie im historischen und kulturellen Kontext. Widersprüche in den heiligen Texten oder das fast ausschliessliche Auftreten männlicher Propheten erscheinen so als Spiegel ihrer Entstehungszeit.
Blick nach vorne: den Islam als reflektierte Tradition weiterdenken
Was bleibt, wenn man islamisches Recht, religiöse Offenbarung und Prophetie so historisch liest, wie Ṣidīqa Vasmāqī es vorschlägt? Es ergibt sich daraus vor allem eine Aufgabe: den Islam als reflektierte Tradition weiterzudenken. Nicht im Widerspruch zu seinen Quellen, sondern im Dialog mit ihnen. Aber auf eine neue Weise, mit grösserer Klarheit in der Methode und stärkerem Gespür für ethische Massstäbe.
Vasmāqīs Ansatz ist revolutionär, da er die Heiligkeit vieler Fiqh-Regeln in Frage stellt und damit den Raum für Wandel eröffnet. Doch ihre Prinzipien sind erst der notwendige erste Schritt. Der zweite, und weitaus schwierigere, besteht in der praktischen Umsetzung: in der Schaffung neuer, gerechter und von der Gesellschaft getragener Gesetze. Dieser Prozess erfordert zähe politische Kämpfe, langwierige gesellschaftliche Aushandlungen und tiefgreifende institutionelle Reformen, wie es ihr eigenes politisches Engagement und ihr Aufruf zu einem Referendum über die Islamische Republik zeigen. Ihr Ansatz ist daher eine direkte Antwort auf ihre politischen Erfahrungen im Iran.
Ihre konsequente Historisierung wirft jedoch neue Fragen auf, die zur Weiterarbeit einladen: Wenn das Fundament selbst als menschlich und fehlbar verstanden wird, wie lassen sich dann noch verbindliche ethische Normen aus den Quellen ableiten? Wie kann eine Gemeinschaft auf Basis einer entheiligten Tradition zusammenfinden? In diesem Sinne markiert Vasmāqīs Theologie den Beginn eines langen Weges. Ihre Methode wirft grundlegende Fragen auf, deren Beantwortung eine der grössten Aufgaben künftiger islamischer Reformbewegungen sein dürfte.
Am Ende bleibt das Bild eines Islams, der nicht «light», sondern reflektiert ist – kulturell in den arabischen Bräuchen seiner Entstehungszeit verwurzelt, ethisch auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ausgerichtet und geistig lebendig. Ein Islam, der seine Sprache bewahrt und zugleich seine Methoden erneuert; der seine Quellen ehrt, indem er ihre menschliche und historische Bedingtheit konsequent ernst nimmt. Er grenzt nicht aus, sondern gibt Orientierung, nicht durch ein starres Gesetzeswerk, sondern durch die Prinzipien von Vernunft, Gerechtigkeit und Würde.
So gesehen ist der Blick nach vorn für die zeitgenössische iranische Religionsphilosophin Ṣidīqa Vasmāqī kein Sprung ins Ungewisse. Es ist vielmehr eine Rückbindung an den Kern der prophetischen Botschaft, die sie als kreative Idee zur Lösung sozialer Probleme ihrer Zeit versteht. Wenn Prophetie, wie sie argumentiert, ein Weg vom Menschen zu Gott ist und nicht umgekehrt, werden die menschliche Vernunft und das ethische Gewissen zu den entscheidenden Werkzeugen der Gegenwart. Die Aufgabe besteht dann nicht mehr darin, zeitlose göttliche Gesetze zu entdecken, sondern auf Basis eines ethischen Grundimpulses selbst gerechte Normen für eine moderne Gesellschaft zu schaffen.
Mina-Karima Hatef studierte Islam- und Nahostwissenschaften sowie Sozialanthropologie an der Universität Bern. Seit 2021 ist sie Doktorandin am Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Fribourg und forscht zum Thema zeitgenössische islamische Reformdiskurse im Iran.
Werke von Ṣadīqa Vasmāqī
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Vasmāqī, Ṣadīqa. Zan, feqh, eslām [Frau, Rechtswissenschaft, Islam]. Tehrān: Entešārāt-e Ṣamadiyya, 1387/2008.
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Vasmāqī, Ṣadīqa. Beżāʿat-e feqh wa gostar-e nofūḏ-e foqahāʾ [Die Substanz des Fiqh und die Reichweite der Macht der Rechtsgelehrten]. Online-Publikation, Tehrān, 1388/2009.
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Vasmāqī, Ṣadīqa. Bāzḫwānī-ye šarīʿat [Neulesung der Scharia]. Tehrān: Qalam, 1396/2017.
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Vasmāqī, Ṣadīqa. Dar masīr-e payāmbarī [Der Pfad der Prophetie]. Tehrān, 1400/2021.
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Vasmāqī, Ṣadīqa. Čerā ʿaleyhe ḥiǧāb šurīdam [Warum ich gegen den Hidschab rebellierte]. Santa Monica (Kalifornien): Bunyād-e Taslīmī, 1404/2025 (Erste Auflage).
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Vasmāqī, Ṣadīqa. Nah be ibtidāl-e sarkūbgarī [Nein zur Banalisierung der Unterdrückung]. Zeitoons, 25. Mai 2023. URL: https://www.zeitoons.com/111065 (Zugriff am 25.09.2025).
Weiterführende Literatur
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Akbar, Ali. “Sedigheh Vasmaghi: A New Voice of Iranian Religious Reformism.” Iranian Studies 55 (2022): 1045–1064.
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Poya, Abbas. “Desacralization of Religious Concepts: The Prophecy from the Perspective of the Iranian Reformist Scholar Seddigha Wasmaghi.” Religions 14 (2023): 1452. S. 1-12.
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Šabestarī, Muḥammad Muǧtahed. Hermenūṭīk, kitāb va sunnat [Hermeneutik, das Buch und die Tradition]. Tehrān: Ṭarḥ-e No, 2000.
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Surūš, ʿAbdolkarīm. Qabż wa basṭ-e teʿorīk-e šarīʿat [Die theoretische Kontraktion und Expansion der Scharia]. Tehrān: Sīrāṭ, 1995.
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Surūš, ʿAbdolkarīm. Reason, Freedom and Democracy in Islam: Essential Writings of Abdolkarim Soroush. Übers. von Mahmud Sadri und Ahmad Sadri. Oxford: Oxford University Press, 2002.

