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Ein muslimischer Held im Zeitalter des Imperialismus: Der Tod Abdelkaders in Damaskus 1883

Im 19. Jahrhundert gelang es nur wenigen Arabern und Muslimen, von ihren europäischen Zeitgenossen als herausragende Persönlichkeiten anerkannt zu werden. Der algerische Kriegsherr und Sufi-Mystiker Emir Abdelkader wurde aber sogar zur Heldenfigur verklärt. Warum?

Von Ulrich Brandenburg*

Heldinnen und Helden sterben nicht wie gewöhnliche Menschen. Einerseits, so lässt sich argumentieren, sind Heldenfiguren im Grunde unsterblich. Andererseits sterben Helden nicht selten mehrmals. Abd al-Qadir al-Hasani al-Jazairi, in Europa besser bekannt als Emir Abdelkader, wurde mindestens drei Mal für tot erklärt, bevor er am 26. Mai 1883 mit circa 75 Jahren tatsächlich an den Folgen einer längeren Erkrankung starb. Die Welt hatte also genug Gelegenheit, sich auf den Tod des in Damaskus lebenden Algeriers vorzubereiten.

Nach Abdelkaders Tod würdigte die Presse Europas, Amerikas und des Nahen Ostens den Verstorbenen in glühenden Nachrufen. Die “Neue Zürcher Zeitung” etwa liess es sich nicht nehmen, am 29. Mai 1883 noch einmal die Bedeutung Abdelkaders hervorzuheben:

"Mit Abd-el-Kader ist eine grosse Gestalt der mohammedanischen Welt aus dem Leben geschieden. In seiner Person vereinigte er den Helden, dessen Thaten Europa mit Bewunderung erfüllten." [1]

Aber was machte Abdelkader so besonders? Weshalb bewunderten Franzosen, Briten, Deutsche oder Schweizer im Zeitalter des Imperialismus einen arabischen Muslim? Im Allgemeinen war das Verhältnis zwischen Europa und dem "Orient“ im späten 19. Jahrhundert von asymmetrischen Machtverhältnissen und dem Herrschaftsanspruch der europäischen Imperien geprägt. Europäer beanspruchten de facto die Deutungshoheit über Menschen im Nahen Osten, die sie häufig als fanatisch, irrational und unterlegen beschrieben. Der Literaturwissenschaftler Edward Said hat diese systematische Abwertung prägnant unter dem Stichwort „Orientalismus“ zusammengefasst. Dass Abdelkader als polygam lebender Patriarch, Vertreter der islamischen Sufi-Mystik und Anführer eines militärischen Jihads gegen Frankreich nicht mit Geringschätzung betrachtet, sondern im Gegenteil bewundert wurde, ist vor diesem Hintergrund zunächst erstaunlich.

Die Heroisierung Abdelkaders offenbart, wie selbst eine scheinbare Überwindung orientalistischer Grenzziehungen noch die Vorzeichen europäischer Deutungshoheit in sich tragen konnte. In ihren Nachrufen auf Abdelkader pries die westliche Presse vor allem Abdelkaders martialische Maskulinität, die in seinem langjährigen Kampf gegen Frankreich in Algerien sichtbar geworden sei. Selbst französische Zeitungen verwiesen meist vorbehaltlos auf Abdelkaders Erfolge in der militärischen Auseinandersetzung mit Frankreich als Beweis für seine individuelle Grösse. Diese Verengung von Abdelkaders Leben auf den Kampf gegen ein europäisches Land schuf die Voraussetzung für seine kulturübergreifende Verehrung als Heldenfigur.

Ein Leben zwischen Algerien, Frankreich und dem osmanischen Syrien

Abdelkader hatte ein bewegtes Leben geführt, das ihn schnell zum Widersacher der expansionistischen Bestrebungen Frankreich werden liess. Er stammte aus einer Familie von Sufi-Gelehrten und wurde um 1808 in der Nähe von Mascara im Westen des heutigen Algerien geboren. Als Frankreich 1832 die Stadt Algier eroberte, die zuvor unter loser osmanischer Herrschaft gestanden hatte, reagierte Abdelkader auf das resultierende Machtvakuum mit der Etablierung eines lokalen Staatswesens in Westalgerien. Damit machte er den Franzosen die Vorherrschaft streitig.

Wegen seiner beachtlichen militärischen Erfolge wurde Abdelkader schnell zu einem Symbol algerischen Widerstands gegen die französische Invasion. Erst mit bedeutendem Truppeneinsatz und unter grossen Verlusten konnten ihn die französischen Armeen in eine aussichtslose Lage bringen, sodass er Ende 1847 kapitulierte. Obwohl ihm der Gang in ein selbstgewähltes Exil im Nahen Osten zugesichert wurde, verbrachte Abdelkader die folgenden fünf Jahre als Gefangener in Frankreich und wurde erst 1852 durch den angehenden Kaiser Louis Napoléon (später Napoleon III.) im Rahmen einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne in die Freiheit entlassen. Obwohl ihm Louis Napoléon ein Domizil in Frankreich angeboten haben soll, zog es Abdelkaders stattdessen ins Exil im Osmanischen Reich, zunächst ins anatolische Bursa und 1855 nach Damaskus.

Nach seiner Übersiedlung nach Damaskus wurde Abdelkader schnell zu einem einflussreichen und sehr wohlhabenden Würdenträger in der Region. Er widmete sich verstärkt der Gelehrsamkeit und übte als Sufi-Meister nachhaltigen Einfluss auf islamische Gelehrtenkreise im Nahen Osten aus. Daneben war Abdelkaders Leben im Exil gekennzeichnet durch enge Beziehungen zu Frankreich und dessen diplomatische Repräsentanten. Er bezog eine beachtliche Pension vom französischen Staat und machte unter anderem als „Freund Frankreichs“ Schlagzeilen, als er diesem 1870 seine persönliche Unterstützung im Deutsch-Französischen Krieg offerierte.

Es lässt sich darüber streiten, inwieweit Abdelkader dem Land tatsächlich freundschaftlich gegenüberstand. So hat der Historiker Tom Woerner-Powell in seiner Biografie Abdelkaders ausgeführt, dass es sich eher um eine persönliche Loyalität gegenüber Louis Napoléon gehandelt hatte. Ausser Zweifel steht, dass Abdelkader von französischer Protektion profitierte, weil er damit seinen sozialen Status in Damaskus festigen konnte.

Ein bemerkenswertes Ereignis in jener Zeit war Abdelkaders Beitrag zur Rettung Tausender Christen, als 1860 blutige interreligiöse Unruhen in Damaskus ausbrachen. Gründe für den Konflikt waren sozioökonomische Verwerfungen im Zuge der rechtlichen Gleichstellung der Christen im Osmanischen Reich und der wachsende Wohlstand christlicher Händler, die oft durch europäische Mächte protegiert wurden. Die Spannungen entluden sich in Ausschreitungen von bis dato ungekanntem Ausmass gegen christliche Einrichtungen, Geschäfte und Personen. Nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in Damaskus bewaffnete Abdelkader mit Unterstützung des französischen Konsuls seine Gefolgsleute, in der Mehrzahl Exilanten aus Algerien. Er beschirmte eine grosse Zahl verfolgter Christen sowohl in seiner Residenz als auch in der Zitadelle der Stadt. Abdelkader war zwar nicht die einzige, wohl aber die prominenteste muslimische Persönlichkeit in Damaskus, die sich dem Töten entgegenstellten. Seine Taten brachten ihn erneut ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit und veranlassten zudem eine Reihe unterschiedlicher Länder, ihn mit hohen Auszeichnungen zu ehren.

Nachrufe als Spiegel einer Gesellschaft

Nachrufe und posthume Würdigungen geben nicht nur Informationen über verstorbene Personen, sondern bieten in der Rahmung eines Lebens auch Aufschlüsse darüber, welche Charaktereigenschaften eine Gesellschaft als mustergültig erachtet. Gerade die zu Helden verklärten Figuren wie Abdelkader dienen als Anschauungsbeispiele exemplarischen Verhaltens. Als Algerien nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich eine Identifikationsfigur benötigte, griff man auf die Person Abdelkaders als Symbol antikolonialen Widerstands zurück und überführte 1966 seine sterblichen Überreste in einer feierlichen Zeremonie von Damaskus nach Algier. Heutzutage wird Abdelkader häufig als Verkörperung eines toleranten und aufgeschlossenen Islams präsentiert, dessen Beispiel sowohl Muslimen als auch Nicht-Muslimen einen glaubwürdigen Gegenentwurf zum islamistisch motivierten Terrorismus und den damit assoziierten Islamvorstellungen bieten könne. Abdelkaders Einsatz für verfolgte Christen selbst nach der Verwüstung seiner Heimat durch die Kolonialmacht Frankreich, seinem erzwungenen Exil und der unrechtmässigen Inhaftierung durch Frankreich dient dabei als Illustration von Toleranz und der Fähigkeit des Verzeihens.

Zum Zeitpunkt seines Todes war sich die Presse der Welt weitgehend einig darüber, dass mit Abdelkader eine herausragende Persönlichkeit gestorben war. Als Begründung dafür dominierte jedoch die Erinnerung an seine kriegerischen Erfolge. Besonders in westlichen Nachrufen prägte die Betonung seiner dezidiert männlich konnotierten Tapferkeit das Bild. Die renommierte “New-York Tribune” sah in dem Verstorbenen beispielsweise „einen Mann von bemerkenswerten Fähigkeiten und Erfolgen sowie grosser Tapferkeit“.[2] Der “Londoner Standard” nannte ihn „eine der eindrücklichsten und ritterlichsten Figuren der modernen Geschichte“.[3] Der französische “Figaro” erkannte in ihm einen furchteinflössenden, aber bewundernswerten Gegner, „der sechzehn Jahre lang in heldenhaften Schlachten für seinen Glauben und die Unabhängigkeit seines Landes kämpfte“.[4]

Diese Glorifizierung des militärischen Kampfes offenbart die enge Verknüpfung von Gewalt, Maskulinität und Heldentum in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts und teilweise noch bis in unsere Zeit. Wenn manche Kommentare den Verstorbenen auf dieser Basis „zu den wenigen grossen Männern des Jahrhunderts“ zählten[5], stellte Abdelkader nicht lediglich eine Projektionsfläche dar, sondern dürfte als kulturübergreifende Identifikationsfigur auch wiederum prägend für Männlichkeitsideale in Europa gewirkt haben. So wurde Abdelkader in Würdigungen seiner Lebensleistung bisweilen in eine Reihe mit Heldenfiguren des Nationalismus wie dem Italiener Garibaldi, dem Polen Kosciuszko oder dem Tschetschenen Imam Schamil gestellt. Selbst in französischen Nachrufen erschien Abdelkader in erster Linie als muslimischer und algerischer Patriot, dessen Jihad kein Ausdruck religiösen „Fanatismus“, sondern eine Form rechtmässiger Landesverteidigung gewesen sei. Natürlich unterstrich die Glorifizierung des ehemaligen Gegners auch die Leistung und den Ruhm der französischen Soldaten, die diesen Widersacher nach langen Kämpfen bezwingen konnten. Aus diesen Gründen ergibt sich der Eindruck, dass Abdelkader in Europa vielleicht noch einhelliger bewundert wurde als in seiner Heimat Algerien oder seinem Damaszener Exil.

Unterschiedlich bewertete Lebenshälften

Die Abdelkader zugeschriebene Männlichkeit bildete einen Rahmen, der seine durch die Haft in Frankreich getrennten Lebensabschnitte in Algerien und Damaskus verbinden konnte. Die “Neue Freie Presse”, das führende liberale Blatt Wiens, betonte die Standhaftigkeit Abdelkaders selbst in der Anerkennung seiner Niederlage: „Abd-el-Kader hatte sein Wort verpfändet, nie mehr gegen Frankreich zu kämpfen, und diesen Schwur mannhaft gehalten, nachdem Frankreich ihm die Freiheit wiedergegeben.“[6] Der “Courrier d’Oran”, eine Zeitung französischer Siedler in Algerien, fasste die beiden Etappen von Abdelkaders Leben in den Worten Patriotismus und Ehre – patriotisme et honneur – zusammen.[7] Sowohl sein versierter Kampf gegen Frankreich als auch seine spätere Loyalität gegenüber den Siegern hätten ihm den Respekt der einstigen Feinde eingebracht. Beide Ausdrucksformen männlicher Tugend verbanden damit nicht nur Abdelkaders früheres und späteres Leben, sondern stellten auch seine im damaligen Europa so geschätzte Fähigkeit unter Beweis, nicht nur die eigene Umwelt, sondern auch sich selbst zu beherrschen.

Auffällig ist allerdings, dass die Mehrzahl der Nachrufe in westlichen Zeitungen recht einseitig die Jahre des Kampfes in Algerien betonte und seine Zeit in Damaskus, selbst Abdelkaders Eintreten für die verfolgten Christen, oft nur eine Randnotiz blieb. Die eingangs zitierte NZZ bildete eine Ausnahme, indem sie mit dem militärischen Widerstand gegen Frankreich und dem Schutz Tausender Christen klar auf zwei Aspekte verwies, die Abdelkaders Leben in ihren Augen aussergewöhnlich machten. Sie machte jedoch gleichzeitig deutlich, dass seinem Einsatz für die Christen ein geringerer Stellenwert beigemessen wird als Abdelkaders Grösse im Krieg:

"Sein Aufenthalt in Damaskus erinnert uns zunächst an eine Episode, welche sich im Jahre 1860, bei der Christenverfolgung in Syrien abgespielt hat. [...] Das war eine Heldenthat im Dienste der Humanität, moralisch größer, wenn auch äußerlich weniger glänzend, als der Widerstand, den der Emir in den 30er Jahren den Angriffen Frankreichs in Algier entgegensetzte."[8]

Im Allgemeinen legten die Nachrufe das Gewicht deutlich auf Abdelkaders Kämpfe und Siege in Algerien, als der Verstorbene sich gegen eine Übermacht von Gegnern zur Wehr setzte, seine Anhänger ins Gefecht schickte und selbst zu sterben bereit war. Sein Leben in Damaskus dagegen erschien zwar wie ein Triumph der Selbstbeherrschung, gleichzeitig wie ein Rückzug vom eigentlichen Heldentum.

Wahre Grösse, so lässt sich den Nachrufen entnehmen, zeigt sich letztlich in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die “Neue Freie Presse” brachte dies auf den Punkt, indem sie in Abdelkaders Rettung der Damaszener Christen vor einem bewaffneten Mob den „unaufhaltsamen Durchbruch der alten, so lang verhaltenen Kampflust“ identifizierte.[9] Der Einsatz für die Verfolgten, so auch die französische Zeitung Le Temps, habe Abdelkader die Möglichkeit gegeben „seine kriegerischen Instinkte“ und „seine Leidenschaft für den Kampf“ ein weiteres Mal auszuleben, ohne sich dafür gegen Frankreich stellen zu müssen.[10] Der abschliessende Tod im Krankenbett entspreche dagegen, wie die “New York Times” feststellte, einem ausgesprochen unheroischen Ende für ein heroisches Leben. Heldentum, wird hier deutlich, war letztlich untrennbar mit Krieg und Gewalt konnotiert.[11]

Deutungshoheit im Zeitalter des Imperialismus

Während in europäischen Zeitungen die Würdigung von Abdelkaders kriegerischen Erfolgen dominierte, stellte die Presse im Nahen Osten seine individuelle Grösse auf eine etwas breitere Basis. In Damaskus existierte im Jahr 1883 lediglich ein offizielles Blatt der Provinzverwaltung, das über die Umstände von Abdelkaders Tod in äusserst knappen und nüchternen Worten berichtete. Im nahe gelegenen Beirut, das über eine deutlich reichhaltigere Presselandschaft verfügte, zeigte sich eine grössere Anteilnahme. Für die Beiruter Presse war Abdelkader nicht in erster Linie der vormalige Kämpfer gegen die Franzosen – Algerien war weit entfernt –, sondern verkörperte das Zusammenkommen von Tugenden des Kampfes und der Gelehrsamkeit. Hervorgehoben wurde zudem, besonders in den Blättern christlich-säkularer Prägung, die allgemeine Bewunderung, die Abdelkader insbesondere auch von unterschiedlichen religiösen Gruppen zugekommen sei. Die Nachrufe betonten die einigende Wirkung Abdelkaders, die die Unterschiede und Animositäten innerhalb der religiös und ethnisch vielfältigen Gesellschaft im heutigen Libanon und Syrien überbrückt habe.

In der Beiruter Presse, die sich zu dem Zeitpunkt noch in ihrer Anfangszeit befand, lassen sich die Schwierigkeiten nachvollziehen, über den Tod bzw. ein vergangenes Leben angemessen zu berichten. So musste sich beispielsweise die reformislamisch ausgerichtete Zeitung Thamarat al-Funun bei ihren Leserinnen und Lesern dafür entschuldigen, zunächst nur eine kurze Meldung über den Tod Abdelkaders veröffentlicht zu haben. Da man durch den eigenen Korrespondenten in Damaskus keine Bestätigung über Abdelkaders Ableben erhalten habe, habe man entsprechende Nachrichten zunächst für Gerüchte gehalten. Später habe man dann behelfsmässig einige wenige Worte in die eigentlich schon fertig gesetzte Ausgabe der Zeitung eingefügt.[12] Letztlich war es ein beim französischen Konsulat in Beirut eingehendes Telegramm aus Damaskus, das Thamarat al-Funun von Abdelkaders Tod überzeugte. Ein ähnlich starker Einfluss französischer Kommunikationskanäle zeigt sich auch in anderen arabischen Zeitungen Beiruts. Während das Begräbnis in Damaskus mit Verweis auf eigene Korrespondenten in verschiedenen Details nacherzählt wurde, blieb man in der Schilderung von Abdelkaders Leben vage und bediente sich für die Zeit in Algerien französischer Quellen. Das posthume Bild von Abdelkader beruhte, trotz der geografischen Nähe zum Verstorbenen, nicht primär auf unmittelbarer Erfahrung, sondern musste aus verschiedenen Elementen rekonstruiert werden.

Der starke Einfluss europäischer Darstellungen über Abdelkader sogar im Nahen Osten verdeutlicht die im Zeitalter des Imperialismus existierenden Machtasymmetrien. Zeitungen wie Tercüman-ı Hakikat in Istanbul oder Al-Ahram in Kairo griffen in ihren Nachrufen auf französische Telegrafenberichte zurück und waren dadurch überhaupt erst in der Lage, zeitnah zu berichten.[13] Auch die telegrafische Nachrichtenzirkulation zwischen Damaskus und Algerien verlief notwendigerweise über den Umweg Frankreich und brachte französischen Stimmen in eine Position, Abdelkaders Ableben auch dort in einer ihnen genehmen Weise deuten zu können. So präsentierte der “Courrier de Tlemcen”, ein Blatt französischer Kolonisten, Abdelkader dezidiert als loyalen Parteigänger Frankreichs. Die Zeitung nahm sich zwar einen ausführlicheren französischen Nachruf als Grundlage, entfernte daraus jedoch jede Erwähnung von Abdelkaders Kämpfen gegen Frankreich:

"Abd-el-Kader wurde um 1807 in der Nähe von Mascara auf dem Gebiet der Hachms geboren. Er bezog eine Pension von 100.000 Franken pro Jahr, die ihm Frankreich zahlte. … Er erhielt das Grosskreuz der Ehrenlegion, nachdem er in den Ereignissen in Damaskus die Christen gegen den Zorn der Drusen verteidigt hatte."[14]

In dieser gekürzten Fassung von Abdelkaders Leben fehlten nicht nur jegliche Hinweise auf den algerischen Widerstand gegen die französische Invasion, selbst die anti-christliche Unruhen in Damaskus wurden nicht den Muslimen im Allgemeinen, sondern lediglich den Drusen – einer Abspaltung des schiitischen Islams – zugeschrieben. Nicht der Verstorbene stand in dem Nachruf im Mittelpunkt, sondern die autoritative Präsenz Frankreichs, der auch Abdelkader gerne dienstbar gewesen sei. Andere Zeitungen konnten in Abdelkaders martialischer Männlichkeit ein bewundernswertes Vorbild sehen, für den “Courrier de Tlemcen” zählte im kolonialen Kontext jedoch nur Loyalität.

Gleichberechtigung und Krieg

Wenigen Arabern und Muslimen gelang es im Zeitalter des Imperialismus in ähnlicher Weise wie Abdelkader, von ihren europäischen Zeitgenossen als herausragende Persönlichkeiten anerkannt zu werden. Doch Anerkennung war unter den Bedingungen der ungleichen Machtverhältnisse des späten 19. Jahrhunderts auch immer das Resultat von Projektionen. Wertgeschätzt wurde das, was einem vertraut oder ähnlich erschien. Es ist wohl bezeichnend für dieses das Heroische liebende Zeitalter, dass die Verbindung zu Abdelkader im Ausdruck martialischer Männlichkeit gesucht wurde.

Was Europäer 1883 als bewundernswerte Grösse in der Person Abdelkaders hervorhoben, war die ihm zugesprochene Fähigkeit, kontrollierte, beziehungsweise rationale Gewalt auszuüben – im Gegensatz zu dem blinden „Fanatismus“, den man gerne der Masse der Muslime unterstellte. Selbst Abdelkaders Jihad gegen Frankreich war als Gewaltausübung mit dem Ziel der Verteidigung der Heimat nicht nur akzeptabel, sondern sogar lobenswert. Auch wenn dadurch Widerstand gegen die europäische Expansion in gewisser Weise legitimiert war, gibt die Grundaussage zu denken: Der Weg zu Gleichberechtigung und Anerkennung, das sollten im Laufe der Zeit viele nicht-europäische Intellektuelle erkennen, führte häufig nur über die Ausübung von Gewalt oder zumindest über den Nachweis, diese ausüben zu können.

*Dieser Beitrag entstand mithilfe der Forschungsförderung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Ulrich Brandenburg arbeitete von Anfang 2021 bis Ende 2022 als Postdoktorand in dem durch den SNF geförderten Forschungsprojekt "Fragmented Sovereignties in the Colonial Age: Abd al-Qadir al-Jazairi (1808-1883) and the Making of an 'Arab Hero'" am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich. Davor studierte er Islamwissenschaft und Japanologie an der Universität Bonn und promovierte zum Thema japanisch-muslimischer Interaktionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an der Universität Zürich. Ab Januar 2023 ist er im Grants Office der Universität Bern tätig.  

Weiterführende Literatur:

Fawaz, Leila Tarazi (1995): An Occasion for War. Mount Lebanon and Damascus in 1860. Berkeley: University of California Press. 

Gölz, Olmo; Brink, Cornelia (Hg.) (2020): Gewalt und Heldentum. Baden-Baden: Ergon Verlag. 

Jansen, Jan C. (2013): Erobern und Erinnern. Symbolpolitik, öffentlicher Raum und französischer Kolonialismus in Algerien, 1830–1950. München: Oldenbourg. 

Weismann, Itzchak (2001): Taste of Modernity. Sufism, Salafiyya, and Arabism in Late Ottoman Damascus. Leiden: Brill. 

Wien, Peter (2017): Arab Nationalism. The Politics of History and Culture in the Modern Middle East. Milton Park: Routledge. 

Woerner-Powell, Tom (2017): Another Road to Damascus. An Integrative Approach to ʿAbd al-Qādir al-Jazāʾirī. Berlin: De Gruyter. 

Zarcone, Thierry (2019): Le mystère Abd el-Kader. La franc-maçonnerie, la France et l'islam. Paris: Les Éditions du Cerf. 

 

[1] Neue Zürcher Zeitung, „Abd-el-Kader“, 29.5.1883.

[2] New York Tribune, „Abd-el-Kader“, 27.5.1883.

[3] The Standard, „Death of Abd-el-Kader“, 28.5.1883.

[4] Le Figaro, „L‘Émir“, 28.5.1883.

[5] New York Times, „Abd-el-Kader“, 25.2.1873.

[6] Neue Freie Presse, „Abd-el-Kader“, 6.6.1883.

[7] Le Courrier d’Oran, „Abd-el-Kader“, 28.5.1883.

[8] Neue Zürcher Zeitung, „Abd-el-Kader“, 29.5.1883.

[9] Neue Freie Presse, „Abd-el-Kader“, 6.6.1883.

[10] Le Temps, „Abd-el-Kader“, 28.5.1883.

[11] New York Times, „Death of Abd-el-Kader“, 12.11.1879.

[12] Ṯamarāt al-Funūn, „al-Ruzʾ al-ʿaẓīm“, 4.6.1883.

[13] Tercüman-ı Hakikat, 31.5.1883, al-Ahrām, „ Al-Amīr ʿAbd al-Qādir“, 31.5.1883.

[14] Le Courrier de Tlemcen, „Mort d’Abd-el-Kader“, 1.6.1883.

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