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Landschaft zwischen Schutz und Nutzung

Christian Weibel, SAGW
Nachhaltigkeit

Am 20. Mai fand in Chur eine lebhafte Diskussion zur Bündner Landschaft statt. Sie zeigt: Für eine nachhaltige Landschaftsnutzung müssen wir das Denken in Gegensätzen überwinden.

Welche Erwartungen und Ansprüche werden an die Bündner Landschaft herangetragen? Die Bewohner wollen weder in einer «alpinen Brache» noch in einer Kunstgalerie leben, so Cordula Seger, Leiterin am Institut für Kulturforschung Graubünden. Während bei ihnen der Wunsch nach bezahlbaren Wohnungen und einer arbeitsplatzrelevanten Entwicklung überwiegen mag, sehnen sich Nicht-Ortsansässige eher nach Alpenidylle und unverbaubaren Aussichten. Dass der Alpenraum nicht «uferlos» überbaut werden dürfe, darüber herrscht breiter Konsens.

In ihrer Einführung zur Podiumsdiskussion erläuterte Seger, dass sich Konflikte in den Details beziehungsweise an den Rändern entzünden. Dichotomien schaffen zwar Klarheit, werden aber der Komplexität von Landschaften nicht gerecht, die durch verschiedenste Ansprüche geprägt sind. So stellt sich auch nicht die Frage, ob die Bündner Landschaft entweder geschützt oder genützt werden sollte. Vielmehr gilt es der Herausforderung zu begegnen, wie verschiedene Nutz- und Schutzansprüche miteinander in Einklang gebracht werden können.

Die Natur sich selbst überlassen – und zugleich den Menschen zurückgeben

Auch die Teilnehmenden am Podiumsgespräch verdeutlichten anschaulich, dass weder «Schutz» und «Nutzen» noch «Natur» und «Kultur» asymmetrische Begriffspaare bilden. In diesem Sinne betonte Ruedi Haller, Direktor des Schweizerischen Nationalparks, dass der 1914 gegründete Park vorwiegend alte Kultur- und weniger ursprüngliche Naturlandschaft schütze. Das Ziel des Nationalparks sei, die natürlichen Prozesse zu ermöglichen, dies im Sinne eines grossen Experiments. Man sollte dabei aber nicht an einen geografisch definierten Raum oder bestimmte Arten denken, sondern an einen Prozess, der sich möglichst frei von menschlichen Einflüssen entfalten kann.

Neben dem protektiven Anliegen dient der Park auch als Forschungsplattform und touristische Attraktion. Entsprechend wird ein stimmiger Dreiklang angestrebt aus einem (relativ) unberührten Raum für Pflanzen und Tiere, der Erforschung der natürlichen Entwicklung und einem informativen Erlebnisort für Besucherinnen und Besuchern. Die innovative Absicht des Parks fasste Haller prägnant zusammen in den Worten: Die Natur soll sich selbst überlassen und zugleich den Menschen zurückgegeben werden.

Wir machen die Schutzgebiete immer nur dort, wo es uns nicht weh tut. Das muss sich ändern. Die ökologischen Kosten werden zu hoch.

Ruedi Haller

Rund ein Sechstel der Schweiz gilt als «wilde Landschaft»

Auch aus Sicht von Sina Schneider, Präsidentin von Mountain Wilderness Schweiz, handelt es sich bei Wildnis nicht einfach um einen Raum, aus dem die Menschen ausgeschlossen werden, denn sie sind selbst integrativer Teil der Natur. Da es in Mitteleuropa kaum «intakte Landschaften» gibt, kann Wildnis graduell verstanden werden, kontrastiert und gemessen am menschlichen Einfluss. Gemäss einer 2018 veröffentlichten Studie können noch rund 17 Prozent der Schweizer Landesfläche als «wild» bezeichnet werden, wobei diese zunehmend in ein Spannungsfeld geraten durch touristische Erschliessungen und energiewirtschaftliche Interessen. So sei es zunächst wichtig, die als wild geltenden Regionen zu erhalten und in einem nächsten Schritt, sofern möglich, auszuweiten.

Es geht der Alpenschutzorganisation darum, präzisierte Schneider, erlebbare Wildnis zu bewahren und zu fördern – das heisst Räume, die frei von Infrastruktur und menschlicher Einwirkung sind und in denen natürliche Entwicklungen unbeeinflusst und dynamisch ablaufen können. Die Menschen sollen sich in der Natur bewegen und sie erleben können, ohne aber darin zeitlose Spuren zu hinterlassen.

Wildnis bedeutet für uns nicht unberührte, sondern respektierte Natur. Mountain Wilderness Schweiz

Kulturelle Freiräume in der Gebirgslandschaft schaffen

Dass Kultur in der Natur möglich und berechtigt sei, betonte Giovanni Netzer, Leiter des Origen Cultural Festival. Der Alpenraum ist auch Kulturraum und die Berge sind geprägt von Geschichte und den Menschen, die dort gelebt haben und nach wie vor leben. Befand sich auf dem Hochgebirgspass einst ein römischer Jupitertempel, so erhebt sich dort heute – vorübergehend – der Julierturm. Es handelt sich um ein temporäres Theaterhaus, dessen offener Bau den Blick auf die eindrückliche Gebirgslandschaft freigibt. Verstehen wir den Menschen als kreatives Lebewesen, so liegt es auch näher, sich von dem Bild der Bergregionen als Schutzgebiet ohne Entfaltungsmöglichkeiten zu lösen und kulturelle Freiräume für dramatische Darbietungen zu schaffen. Dadurch wirkt man dem Vorurteil entgegen, dass Schauspielerei, Konzerte und allgemein kulturell-kreatives Wirken ein Vorrecht der Metropolen wäre.

Für den Turm auf der Passhöhe, der nächstes Jahr zurückgebaut wird, ist Zeitlichkeit mehrfach von Bedeutung: Die Erlebnisse werden mitgeprägt vom Lichtspiel des Sonnenuntergangs, von den Stimmungen der Jahreszeiten und von der Vergänglichkeit als zentrales Motiv des Theaters. Idealerweise hinterlasse ein Besuch zwar Spuren, so der Wunsch des Intendanten, aber nicht sichtbare, sondern Einsichten und Anregungen, welche die Wahrnehmung der Menschen und ihr Verhältnis zur Landschaft nachhaltig prägen.

Der Mensch ist kreativ und soll auch mit und in der Natur kreativ sein. Giovanni Netzer

Raumplanung: die Krux der lokalen Umsetzung

Der einzelne Turm sorgt zwar für Gesprächsstoff. In der Diskussion kommen aber auch grundlegendere strukturelle Herausforderungen zur Sprache, die sich dem Bergkanton stellen: Wie reagiert man auf die dezentrale Besiedlungsproblematik? Wie begegnet man den Entwicklungen im Wintertourismus? Wer entscheidet bei Interessenskonflikten? Im Zusammenhang mit der letzten Frage machte Markus Schreiber, der an der Universität Luzern zur Energiestrategie 2050 forscht, auf rechtliche Aspekte aufmerksam. In der Schweiz regelt das Raumplanungsgesetz den Rahmen der Raumentwicklung auf Bundesebene, lässt aber den kantonalen Instanzen viel Gestaltungsspielraum. Oft lässt sich ein Muster beobachten, insofern die Beseitigung eines Konflikts neue schafft und die Problematik verschiebt. Fällt zum Beispiel das Schlagwort «Verdichtung nach innen», stellt sich die Frage, wie dies konkret umgesetzt wird. Erlauben die kantonalen Vorgaben und lokalen Begebenheiten überhaupt höhere oder dichtere Bauvorhaben?

Besondere Brisanz kommt dem Spannungsfeld zwischen dem Interesse an erneuerbarer Energie einerseits und an Naturschutz andererseits zu, wobei grundsätzlich eine «haushälterische» Bodennutzung und ausgewogene Lösungen anzustreben sind. Ein exemplarischer Lösungsansatz findet sich im Windatlas Schweiz, der einerseits schützenswerte Zonen (unter anderem Lärm-, Landschafts-, Natur- und Artenschutz) und andererseits Gebiete mit Potenzial für Windenergieanlagen aufzeigt.

Leistungen und Werte: Was gilt es zu schützen?

Urs Steiger, Kuratoriumsmitglied des Forums Landschaft, Alpen, Pärke (FoLAP), moderierte die Diskussion, stellte Bezüge her und fragte nach. Stossen wir heute an Grenzen, wenn es um Schutzbereiche geht? Was gilt es eigentlich zu schützen, wenn von Natur- oder Landschaftsschutz die Rede ist? Handelt es sich um bestimmte Ökosystemleistungen, also Vorteile, die Menschen darin erkennen können, oder um bestimmte Werte wie Vielfalt, Eigenart, Schönheit oder Erholungswert? Steiger regt zum Weiterdenken an: Es brauche den Dialog vor Ort, in Graubünden und gesamtschweizerisch, um verschiedene Anspruchgruppen miteinzubeziehen und gemeinsam Spannungsfelder im Bereich Landschaft und Energie zu klären.

Die Diskussion machte somit deutlich, dass Landschaft nicht nur ein «Raumausschnitt» ist, sondern – wie es die Europäische Landschaftskonvention von 2000 festhält – immer eine Wahrnehmung und Bewertung beinhaltet. Je nach Anspruchgruppe fällt diese Bewertung unterschiedlich aus. Auch das zeigte die Diskussion. Für kluge Lösungen, soviel steht fest, ist ein umfassendes Verständnis von Landschaft unabdingbar. Denn es gilt nicht nur Kompromisse zwischen Partikularinteressen zu finden, sondern Landschaft in ihrer Eigenständigkeit und Vieldeutigkeit zu respektieren.

Referenzen

Bundesamt für Energie: Windatlas Schweiz, https://www.uvek-gis.admin.ch/BFE/storymaps/EE_Windatlas/?lang=de

Mathieu, Jon et al. (2016): Geschichte der Landschaft in der Schweiz. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, Zürich.

Moos, Sebastian et al. (2019): Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz, Bern. https://mountainwilderness.ch/wildnis/projekte/wildnis-studie/