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Wie kann die Gleichstellung eingelöst werden?

Heinz Nauer | Traduction: Fabienne Jan

Die neue Gleichstellungsstrategie 2030 des Bundes ist ein deutliches Zeichen, dass das Geschlecht für die Herstellung sozialer Ungleichheiten nach wie vor ein wichtiger Faktor ist.

Der Bundesrat hat Ende April die Gleichstellungsstrategie 2030 verabschiedet. Es ist, 40 Jahre nachdem die Gleichstellung von Frau und Mann in der Bundesverfassung festgeschrieben wurde, die erste nationale Strategie des Bundes mit dem Ziel, die Gleichstellung der Geschlechter gezielt zu fördern – und ein deutliches Zeichen dafür, dass die Gleichstellung in der Schweiz noch nicht erreicht und das Geschlecht in der Herstellung sozialer Ungleichheiten nach wie vor ein entscheidender Faktor ist, ja vielleicht sogar ein «klassisches Geschlechterregime» fortbesteht, wie die Gender-Forscherinnen Janine Dahinden und Martine Schaer 2020 in einem Artikel im SAGW-Bulletin festhielten.

Evidenzen der Ungleichheit

Die empirischen Evidenzen dafür, dass die Gleichstellung realiter noch nicht erreicht ist, sind erdrückend und ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Eine (unvollständige) Zusammenstellung:

In der Medizin

Der männliche Patient, der männliche Körper, wird von der Medizin stärker berücksichtigt als die weibliche Patientin, der weibliche Körper. Die meisten Forschungsergebnisse werden an Männern und männlichen Tieren erhoben, so dass es bei Frauen im klinischen Alltag häufiger zu diagnostischen Ungenauigkeiten kommt, beispielsweise bei Herzinfarkten, die als typische Männerkrankheit gelten. Zwar studieren seit vielen Jahren mehr Frauen Medizin als Männer, doch gilt in der Ausbildung nach wie vor der junge männliche Körper als Norm.

Bei der Familienarbeit

Gemäss einer Erhebung des Bundesamts für Statistik (BfS) leisteten im Jahr 2020 die Frauen in der Schweiz rund zehn Stunden mehr Haus- und Familienarbeit pro Woche als die Männer. Geht es um Paare mit Kindern unter 15 Jahren, ist der Unterschied noch deutlicher: Mütter übernehmen im Schnitt 50 Prozent mehr von der Familienarbeit als die Väter. Belastet sind indes beide Geschlechter gleich stark. Laut den Daten des BfS arbeiteten Männer wie Frauen wöchentlich je rund 46 Stunden – ob bezahlt oder unbezahlt. Die Haus- und Familienarbeit der Frauen lag mit rund 29 Stunden pro Woche jedoch klar höher als diejenige der Männer mit rund 19 Stunden.  

Bei Berufswahl, Erwerb und Löhnen

Junge Männer wünschen sich statushöhere Berufe als junge Frauen. Viele junge Männer wollen Pilot, Ingenieur, Manager oder Architekt werden, junge Frauen Primarlehrerin, Kleinkinderzieherin, Modedesignerin oder Physiotherapeutin. Junge Frauen stecken ihre beruflichen Ziele weniger hoch als junge Männer. Dies dürfte dazu beitragen, dass junge Frauen – trotz grösserem Schulerfolg – im Arbeitsmarkt schnell ins Hintertreffen geraten.

Der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» hat sich in der Schweiz nicht überall durchgesetzt, wie die Statistik zeigt. Ob in der Privatwirtschaft oder in öffentlichen Betrieben: Im Durchschnitt verdienten Frauen im Jahr 2018 19 Prozent weniger als Männer. 2016 waren es noch gut 18 Prozent weniger. Einen Teil der Lohnunterschiede lässt sich erklären: mit dem Bildungsniveau, der Anzahl Dienstjahre oder ob jemand eine Führungsposition innehat. Gemäss Bundesamt für Statistik reichen solche Erklärungen für rund 55 Prozent der Fälle aus.

In Medien und in der Geschichtsschreibung

Frauen sind in der medialen Berichterstattung untervertreten. Bloss 23 Prozent der Stimmen der in Medienberichten zitierten Expertenstimmen, stammen von Frauen. Insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Sport werden männliche Experten und Protagonisten bevorzugt. Etwas mehr Frauen findet man bei sogenannten Human-Interest- sowie Kulturthemen (31 und 27 Prozent). Dieser Befund hat auch damit zu tun, dass der Journalismus nach wie vor eine Männerdomäne ist.

Ein nicht ganz unähnliches Bild zeigt sich für die Geschichtsschreibung. Nichts illustriert die Untervertretung der Frauen in der Geschichtsschreibung eindrücklicher als ein Zahlenvergleich zwischen Biografien über Männer (24 025) und Frauen (1190) im HLS, hielt die Redaktion des Historischen Lexikons der Schweiz 2019 anlässlich des Frauenstreiks fest.

Die Gründe für die massive Untervertretung von Frauenbiografien liegen in den 1980er-Jahren, schreiben die Redaktionen des HLS und des Geschichts-Portals infoclio.ch in einem gemeinsamen Blog-Text. Damals, in der Anfangszeit des HLS, wurde ein Grossteil der Artikel geplant und realisiert – zu einer Zeit also, als die Frauengeschichte noch wenig Aufmerksamkeit erhielt in der historischen Forschung. Mit einer Erhöhung der Artikel über Frauen und zur Frauengeschichte allein sei das Problem aber nicht gelöst, schreiben die AutorInnen. Vielmehr müsse die frauen- und genderspezifische Perspektive auch in den übrigen Artikeln gestärkt werden.

Die Institutionen bestimmen das Zusammenleben

Der Soziologe René Levy hielt 2016 auf Basis einer empirischen Untersuchung von «Lebensläufen zwischen Bildung, Familie und Beruf» in einem Referat fest, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern institutionell bedingt seien – und nicht etwa Folge von individuellen Präferenzen. Oder kurz: Paare tun puncto Aufgabenverteilung zwischen den Partnern nicht, was sie wünschen, sondern was sie offenbar nicht anders tun können.

Als Eckpunkt für politisches Handeln hielt er fest: «Beim institutionellen Funktionieren kann Politik leichter ansetzen als bei den Mentalitäten und zwischenmenschlichen Beziehungen; politisch bewirkte institutionelle Veränderungen können aber dauerhaft auf die Mentalitäten wirken.»

Die Gleichstellungsstrategie des Bundes enthält noch kaum konkrete Vorschläge für institutionelle Anpassungen. Sie soll bis Ende 2021 in einem Massnahmenplan noch konkretisiert werden.

Literatur und Referenzen

Titelbild

Marlene Iseli, Juni 2021 (eintönig – mehrstimmig | mono-ton-e – en accord)